Ab sofort! Unverzüglich!

Die Nacht als Politik und Bürger – und ein etwas nuschelnder Günter Schabowski – Berge versetzten

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05
WDR
Egon Krenz, Fritz Pleitgen
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WDR
Egon Krenz, Fritz Pleitgen

Ab sofort! Unverzüglich!

Die Nacht als Politik und Bürger – und ein etwas nuschelnder Günter Schabowski – Berge versetzten

Am 9. November 1989 sollte ich eigentlich in Warschau sein. WDR und SFB hatten den Auftrag, für die ARD über den Staatsbesuch von Bundeskanzler Helmut Kohl in Polen zu berichten. Ulrich Deppendorf war bereits mit dem WDR-Team vor Ort, ebenso Jürgen Engert mit seiner SFB-Mannschaft. Irgendetwas hielt mich zurück, hinterherzureisen. In meinem Büro hatte ich mir das Programm des WDR-Fernsehens aufschalten lassen. Mit Ulrich Deppendorf vereinbarte ich, einen Tag später nachzukommen. Aus meiner Sicht waren genügend kompetente Berichterstatter vor Ort. Im Gegenzug wollte ich die Kollegen in Warschau über die Entwicklung in Ost-Berlin auf dem Laufenden halten.

Am Frühabend, gegen 18.00 Uhr, wurde es richtig spannend. Die neue SED-Führung war dabei, ihr modernes Verständnis von Politik zu demonstrieren. Nach den Sitzungen der Parteigremien sollten die Journalisten umgehend über die Beschlüsse informiert werden. Als Interpret wurde mit Günter Schabowski, der ehemalige Chefredakteur des Parteiorgans Neues Deutschland, in das Internationale Pressezentrum an der Mohrenstraße entsandt. Schabowski, seit geraumer Zeit Chef des mächtigen SED-Bezirks Berlin, gab sich betont selbstgewiss, zeigte sich aber im entscheidenden Augenblick seiner Aufgabe nicht gewachsen – was die Welt verändern sollte.

In der ersten Dreiviertelstunde konnte ich Deppendorf nichts von Bedeutung mitteilen. Dann fragte in der Pressekonferenz ein Korrespondent nach dem neuen Reisegesetz. Schabowski geriet ins Schwimmen. Er gab sich weiter den Anschein von Souveränität, aber allen war klar, dass er nicht im Stoff war, bis er schließlich in seinem Zettelwirrwarr völlig unterging. Von dem, was Schabowski vor sich hinnuschelte, verstand ich nur, dass Anträge auf Privatreisen künftig kurzfristig genehmigt würden. An den Gesichtern der Journalisten sah ich, dass sie auch nicht ganz verstanden hatten, was ihnen Schabowski verkündete. Einzig auf die Frage, wann die Regelung in Kraft treten solle, gab es eine klare Antwort: „Ab sofort! Unverzüglich!“ Die Tagesschau fasste Schabowskis Pressekonferenz in dem zutreffenden Satz zusammen: „Die DDR öffnet ihre Grenzen.“

Egon Krenz, Fritz Pleitgen

 

Am späteren Abend eröffnete Hanns Joachim Friedrichs die ARD-Tagesthemen mit Sätzen, die das Ende der DDR einleiteten: „Die DDR hat dem Druck nachgegeben. Der Reiseverkehr in Richtung Westen ist frei. Dieser 9. November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen für jedermann geöffnet sind. Die Tore in der Mauer stehen weit offen.“

Die Nachricht von der Maueröffnung erreichte umgehend Bundeskanzler Helmut Kohl in Polen. Er wusste, an diesem historischen Tag musste er in Berlin sein. Er reagierte sofort. In einer Pressekonferenz, die von der ARD live übertragen wurde, teilte er die Unterbrechung seines Staatsbesuchs in Polen mit. Mit ihm begab sich der gesamte westdeutsche Pressetross Richtung Deutschland. Wie mir Ulrich Deppendorf mitteilte, kämpfte sich Jürgen Engert auf dem Landweg nach Berlin durch. Wir trafen uns am nächsten Morgen in Engerts Büro im SFB-Gebäude an der Masurenallee, und richteten uns auf eine Berichterstattung rund um die Uhr ein.

Helmut Kohl, Fritz Pleitgen

 

Jürgen Engert übernahm den West-Berliner Teil, während ich mich in Ost-Berlin umschaute. Ich begab mich zu meinem früheren Stamm-Grenzübergang an der Heinrich Heine-Straße. Zehntausende glückselige Menschen kamen mir entgegen. Sie riefen mir zu, ich sei auf dem falschen Trip. Nicht nach Osten, sondern nach Westen sollte ich mich wenden. Die Passkontrolleure hatten resigniert ihre Arbeit eingestellt. Im dichten Gedränge entdeckte ich eine mir vertraute Gestalt. Es war Lew Kopelew, 
auch er unterwegs in Richtung Ost. „Wohin des Weges?“, fragte ich ihn. „Zum Dorotheenstädtischen Friedhof, zum Grab von Bertolt Brecht und anschließend zu Christa und Gerhard Wolf“, rief er mir zu.

Als er am Vorabend von der Maueröffnung gehört hatte, hielt es den alten Knaben nicht mehr in Köln. Mit dem ersten Flugzeug machte er sich auf den Weg nach Berlin. In der Hast des Aufbruchs hatte er seinen Pass vergessen. An diesem Tag bescherte ihm das Malheur keine Probleme. Er kam ohne Kontrolle in die DDR hinein und auch ohne Kontrolle aus der DDR hinaus.

Mein Kamerateam und ich wandten uns nach Westen Richtung Potsdamer Platz, wo ein Segment aus der Mauer gehoben werden sollte, um einen zusätzlichen Grenzübergang zu schaffen. Von einer Erhebung beobachteten wir die Arbeiten. Wir sahen Bilder, wie sie in einem Hollywoodfilm nicht dramatischer inszeniert werden konnten. Die Mauer war von westlicher Seite von Hunderten Schaulustigen geentert worden. Cordt Schnibben vom SPIEGEL gesellte sich zu uns. Gemeinsam machten wir uns später auf eine Erkundungstour durch Ost-Berlin. Auf der Ostseite der Mauer stellten sich Einheiten der DDR-Grenztruppen in Dreierreihen auf, um den zu erwartenden Ansturm aufzufangen und zu kanalisieren. Passkontrolleure mit Bauchläden bauten sich auf, um die Besucher aus dem Westen ordnungsgemäß zu erfassen. Als das Betonsegment aus der Mauer gehoben wurde, gab es kein Halten mehr. Tausende Menschen rauschten wie entfesselt durch die Mauerlücke. Wie eine Springflut überrollten sie die Grenztruppen. Die Passkontrolleure mit ihren Bauchläden blieben ohne Kundschaft.

Jürgen Engert hatte inzwischen Posten auf der Westseite des Brandenburger Tores bezogen. Ich versorgte sein Team mit dem Bildmaterial, das wir in Ost-Berlin gedreht hatten. Engert befragte mich zu meinen Beobachtungen, die ich auf unserem Streifzug durch Ost-Berlin gemacht hatte. Inzwischen war es früher Nachmittag geworden. Es begann zu dunkeln. Dass die Bürgerinnen und Bürger der DDR vor lauter Freude über den unerwarteten Fall der Mauer, den sie mit ihrer Hartnäckigkeit selbst herbeigeführt hatten, völlig aus dem Häuschen waren, hatten wir hinreichend dokumentiert.

Aber in welcher Stimmung war die neue Führung des SED-Regimes, dem über Nacht der unverrückbar erscheinende Antifaschistische Schutzwall abhandengekommen war? Wir zogen zum Haus am Werderschen Markt, der Machtzentrale der Deutschen Demokratischen Republik, dem Hauptquartier des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.

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