Nach sechs Jahre PiS-Regierung in Polen sind Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hochgradig gefährdet. Oder schon verloren?
Nach sechs Jahre PiS-Regierung in Polen sind Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hochgradig gefährdet. Oder schon verloren?
Es ist gerade sechs Jahre her, seit in Polen die politische Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) regiert. Die im Jahre 2015 eingeleiteten kontroversen „Reformen“ des Staatssystems, etwa auf dem Gebiet der Gerichtsbarkeit, sind immer noch im Gange. Die ergriffenen Maßnahmen zielen jedoch nicht auf die Durchführung einer wahren Reform der Justiz ab.
Aus den durch das Justizministerium veröffentlichten Angaben (April 2021) ergibt sich, dass die Gerichte langsamer arbeiten und die Wartezeiten auf ein Urteil in beiden Instanzen länger sind. Die Lage ist bedenklich: Polen schreitet eindeutig in die Richtung eines autoritären Staates – noch ist es nicht so weit, ein Rechtsstaat ist es aber auch nicht mehr.
Verfassungsgerichtshof der Marionetten
Und das ist keine bloße Meinung – das sind die Tatsachen. Der Verfassungsgerichtshof, derzeit unter der Leitung von Julia Przyłębska, der Ehefrau des polnischen Botschafters in Deutschland, ist weiterhin gelähmt und besteht größtenteils aus den der Regierung ergebenen Richtern, wobei manche die vorher bereits besetzten Stellen übernommen haben und zu den sogenannten „Doubles“ wurden. Folglich wurde der Verfassungsgerichtshof der Marionetten dem Willen der vollziehenden Gewalt untergeordnet. Die Staatsanwaltschaft, stark vom Justizminister abhängig, der zugleich als Generalstaatsanwalt fungiert, wird allmählich entmachtet. Die Polizei wurde politisiert und verliert das Vertrauen so schnell wie seit der Wende im Jahre 1989 nicht mehr, unter anderem durch unverhältnismäßig aggressive Reaktionen während der öffentlichen Demonstrationen.
Die unabhängige ordentliche Gerichtsbarkeit verfällt weiterhin in vielerlei Hinsicht, von den verschärften Disziplinarmaßnahmen gegen Richterinnen und Richter über die Auslosung der Jury (wobei der Algorithmus geheim gehalten wird und die Ziehungsmaschine sich im Justizministerium befindet) und den beispiellosen Personalaustausch – insbesondere der Gerichtspräsidenten – bis hin zur Umstrukturierung des Nationalen Rats für das Justizwesen (Krajowa Rada Sądownictwa, KRS), der für die Benennung und Beförderung der Richter in Polen zuständig ist.
Die Wahl des neuen KRS ist politisch bedingt und wurde durch den EuGH für nicht konform mit den Voraussetzungen der Unabhängigkeit und unvereinbar und mit dem EU-Recht erklärt. Folglich sind die Entscheidungen vom sogenannten neoKRS mit Rechtsmängeln behaftet, was in Zukunft zur Anfechtung rechtskräftiger Urteile der Gerichte führen kann, die mit den durch dieses Organ nominierten oder beförderten Richtern besetzt wurden.
Unvereinbar mit EU-Recht
Ferner wurde kraft des seit 2016 mehrmals abgeänderten Gesetzes über das Oberste Gericht (Sąd Najwyższy, SN) eine neue Gerichtskammer ins Leben gerufen – die Disziplinarkammer (Izba Dyscyplinarna, ID), die dazu ermächtigt ist, Richtern die Immunität zu entziehen und Disziplinarverfahren einzuleiten. Auch diese Kammer wurde für mit dem EU-Recht unvereinbar erklärt und ihre Tätigkeit im April 2020 und erneut im Juli 2021 kraft Beschlusses des EuGH eingestellt. Dazu kommen auch neue Regelungen im Bereich der möglichen Disziplinarmaßnahmen und Sanktionen für nicht auf die Regierung hörende Richter (Gehaltskürzungen, Versetzung in weit entfernte Gerichte oder sogar Entzug der Berechtigung zur Ausübung des Richteramts). Insgesamt ergibt sich das Bild eines Staates, der in Richtung Autoritarismus abdriftet.
Im Sommer 2021 eskalierte der Streit über die Achtung demokratischer Werte und die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit. Eingeschaltet hat sich der EuGH und der polnische Marionetten-Verfassungsgerichtshof, wobei dieser Streit unberechenbar ist – im Spiel sind die Rechtsgrundlagen der EU und die polnische Mitgliedschaft in der EU.
Das Ziel der Systemänderungen in Polen liegt auf der Hand: Es geht um die Befreiung der Regierung von gerichtlicher Kontrolle und Stärkung der dominierenden Exekutive. Dazu kommen organisatorische Änderungen an den Universitäten, die Übernahme lokaler Medien durch staatliche Konzerne, ein Angriff auf unabhängige nationale Medien, insbesondere der als sogenannte „lex TVN“ bekannte Gesetzesentwurf (mit dem der Betrieb des wichtigsten unabhängigen Fernsehsenders blockiert wird), Finanzierungsbeschränkungen für unerwünschte Nichtregierungsorganisationen, Angriffe auf Minderheiten, insbesondere auf die LGBTI-Gemeinschaft – man kommt nicht umhin, in all dem den Zusammenbruch der Rechtsstaatlichkeit in Polen zu erkennen.
Reaktion der Europäischen Union und anderer Organisationen
Polen ist Mitglied der Europäischen Union (EU), und so konnten derart weitgehende Systemänderungen nicht übersehen werden. Die EU reagiert mit unterschiedlicher Intensität und Wirkung. Polen stellt als erster Staat verschiedene Verfahren und Rechtsinstitute der EU auf die Probe. Es gibt jedoch keinen Grund, darauf stolz zu sein, denn es handelt sich vorwiegend um die Rolle „des schlechtesten Schülers in der Klasse“, der sich mit einem anderen Aufwiegler – Ungarn – angefreundet hat.
Bereits im Januar 2016 hat die Europäische Kommission ein Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in Polen eingeleitet. Die erteilten Empfehlungen brachten so gut wie nichts. Folglich wurde durch die EU-Kommission im Dezember 2017 das Verfahren nach Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union eingeleitet. Nach Anhörung Polens, Diskussionen im Europäischen Parlament und im Rat der Europäischen Union, negativen Stellungnahmen und Gutachten verschiedener Gremien (u. a. des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte, des Menschenrechtskommissars des Europarats und dessen Venedig-Kommission, der Mitgliedstaaten und der EU-Institutionen) blieb dieses „Nuklear-Verfahren“ erfolglos. Das war nicht anders zu erwarten, denn dieses Verfahren erfordert auf einer bestimmten Etappe die Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten und kann zur Suspendierung von bestimmten Mitgliedsrechten führen.
Nach der Auffassung vieler Berichterstatter hat die EU-Kommission die ersten Klagen gegen Polen viel zu spät erhoben. Manche davon sind immer noch anhängig, einige hat Polen bereits verloren. Es sind jedoch vor allem die polnischen Gerichte selbst, die die Initiative ergriffen haben, was vorsichtig optimistisch stimmt. Die Gerichte haben begonnen, die Fragen (Vorlagefragen) an den EuGH zu stellen, wie sie grundsätzlich unter den für sie in Polen geschaffenen Bedingungen handeln sollten. Die Antworten aus Luxemburg kamen in Form von Urteilen und Beschlüssen. Die polnische Regierung setzt diese Entscheidungen nur zögerlich – oder gar nicht um. Für Eskalation sorgte die einstweilige Anordnung des EuGH vom 13. Juli 2021, mit der die Einstellung der Disziplinarkammer angeordnet wurde, die jedoch weiterhin tätig ist.
„Geld nur gegen Rechtsstaatlichkeit?“
Die Zuständigkeiten und der Handlungsspielraum der EU angesichts der derzeitigen Lage in Polen sind begrenzt. Die vertraglichen Verfahren erweisen sich als langsam und oft wenig erfolgreich. Daher erwecken die möglichen Geldstrafen eine gewisse Hoffnung. Die EU-Kommission kündigte die Einreichung von Anträgen auf Sanktionen gegen Polen wegen Nichtvollstreckung des EuGH-Urteils im Juli 2021 an. Außerdem ist seit Januar 2021 die Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates „Geld nur gegen Rechtsstaatlichkeit“ verbindlich.
Die Anhäufung von Konflikten mit der EU, Nichtvollstreckung von Urteilen des EuGHs, die arrogante Haltung der Regierung – all das legt nahe, dass Polen eine Reihe von Sanktionen auferlegt werden könnte und infolgedessen ein Teil (oder sogar der Großteil) von Zahlungen sowohl aus den Hilfsfonds als auch aus dem Wiederaufbaufonds, das heißt der Gelder für den Wiederaufbau der Wirtschaft nach der Pandemie, ausbleiben könnte.
Jetzt heißt es abzuwarten, auch wenn es nicht sehr viel Hoffnung gibt.
Die Geldstrafen selbst, wenn auch spürbar und schmerzlich, können nämlich die Lage nicht ändern. Wenn die PiS-Regierung nicht zahlen will, darf die EU-Kommission diese Geldstrafen im schlimmsten Fall gegen die Fördermittel aus dem EU-Haushalt für Polen aufrechnen.
Diese Situation kann verschiedene Folgen haben. Was wir bereits jetzt erleben, ist der Bedeutungsverlust Polens innerhalb der EU, die Marginalisierung Polens, der Rückgang von Investitionen aus anderen Ländern, aber auch eine Erschütterung des Vertrauens anderer Länder in Polen an sich, vor allem aber auch in dessen Gerichte und Verwaltungsorgane. Und für die europäische Integration ist Vertrauen von entscheidender Bedeutung. Die deutschen, niederländischen oder spanischen Gerichte stellen die Unabhängigkeit der polnischen Gerichte, die beispielsweise die Europäischen Haftbefehle erteilen, in Frage.
Rauswurf aus der Europäischen Union? Unmöglich?
Die Stärkung der Anti-EU-Politik der Regierung sowie die EU-skeptische Kampagne in den öffentlichen Medien (die vollständig von der Regierung abhängig sind) könnten die Einstellung der Polen zur EU-Mitgliedschaft ändern. Die Frage lautet, ob wir uns selbst ausweisen oder ob Polen ausgewiesen wird, was nicht ganz unmöglich ist. Wie lange wird die Geduld der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten noch währen?
Wenn bei der kommenden Parlamentswahl 2023 die Opposition gewinnen sollte, könnte ein äußerst aufwändiger und langer Wiederaufbau des polnischen Staates, der Glaubwürdigkeit der Gerichtsbarkeit, der Staatsanwaltschaft und der Polizei sowie des Vertrauens in den Staat an sich beginnen. Der Grad der Zerstörung des Rechtsstaates in Polen ist tatsächlich erschreckend groß. Was aber, wenn doch wieder PiS gewinnt? Szenarien gibt es viele, aber keine davon stimmt optimistisch.