Ablenkungsmanöver und Anschuldigungen

Der russische Einflussbereich: Belarus, Nawalny, Nord Stream 2

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PICTURE ALLIANCE/AP PHOTO
Schlüsselfigur der Opposition: Marija Kolesnikowa
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Schlüsselfigur der Opposition: Marija Kolesnikowa

Ablenkungsmanöver und Anschuldigungen

Der russische Einflussbereich: Belarus, Nawalny, Nord Stream 2

Nach fast sechs Wochen ist das Momentum der Massenmobilisierung in Belarus trotz einer neuen Welle der Repressionen ungebrochen. Gleich nach den Wahlen hatte es etwa 7000 Verhaftungen gegeben. Die Freilassung der Verhafteten ging einher mit Bildern der ihnen im Gefängnis zugefügten Gewalt. Diese Bilder mobilisierten breite Teile der belarussischen Gesellschaft. Hatte Alexander Lukaschenko in den ersten Wochen zunehmend realitätsfern und unsicher gewirkt, so gewann er mit Wladimir Putins expliziter Zusicherung von Unterstützung durch russische „Reserveeinheiten“ im Falle ausländischer Provokationen oder Chaos im Land wieder an Spielraum. Lukaschenko zielt darauf ab, der Furchtlosigkeit der Gesellschaft eine neue Angst entgegenzusetzen, ohne jedoch bisher zu versuchen, die Demonstrationen gänzlich aufzulösen.

Bis auf die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch sind inzwischen alle Angehörigen des Präsidiums des Koordinationsrats der Opposition verhaftet oder vertrieben worden. Nachdem sowohl Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja als auch ihre Mitstreiterin Veronika Tsepkalo aus Belarus fliehen mussten, wurde die Dritte im Bunde – Marija Kolesnikowa – zur Schlüsselfigur der Opposition vor Ort. Ihre zu einem Herzen geformten Hände sind das Symbol der friedlichen, maßgeblich von Frauen geprägten Proteste für einen politischen Neuanfang in Belarus. Bisher erhält sich die Massenmobilisierung bis auf den bewusst breit aufgestellten Koordinierungsrat ohne tiefergehende organisatorische Strukturen. Dies ist momentan die Stärke der Protestierenden, könnte sich aber mittelfristig als Nachteil erweisen. Kolesnikowa versuchte, diesem institutionellen Vakuum mit der Ankündigung, eine neue Partei gründen zu wollen, etwas entgegenzusetzen. Damit wurde sie für Lukaschenko noch gefährlicher. Kolesnikowa konnte sich einer Abschiebung in die Ukraine widersetzen, sitzt aber nun in Untersuchungshaft.

Trotz einer klaren Verurteilung der Wahlen und der Gewalt tut sich die EU weiterhin schwer mit ihrer Antwort auf die Situation. Man hatte sich auf personenbezogene Sanktionen gegen die Hauptverantwortlichen für Wahlfälschungen und Repressionen verständigt, aber es geht bisher um eine kleine Anzahl von Eliten aus dem direkten Umfeld von Lukaschenko. Selbst diese Entscheidung wird nun von Zypern blockiert, um den Druck auf die Türkei im Erdgasstreit im Mittelmeer zu erhöhen.

Die Frage, ob Lukaschenko selbst mit Sanktionen belegt werden soll, bleibt umstritten. Einige fürchten, dies könnte die ohnehin begrenzten Chancen für Verhandlungen unterminieren. In der Zwischenzeit haben sich einzelne EU-Staaten klar positioniert: Litauen, Estland und Lettland verhängten ein Einreiseverbot gegen Lukaschenko, dehnten die Sanktionen auf einen größeren Personenkreis aus, legen zivilgesellschaftliche Programme auf und drängen die EU, sich ihrer Politik anzuschließen. Die norwegische Ministerpräsidentin und der polnische Ministerpräsident haben sich mit Tichanowskaja getroffen und damit ihre politische Rolle weiter aufgewertet.

Der Giftanschlag auf Alexei Nawalny, den bekanntesten Anti-Kreml Aktivisten Russlands, seine Behandlung in der Berliner Charité und der Nachweis des Nervengifts Nowitschok in seinem Körper ließen Belarus kurzfristig in den deutschen Medien in den Hintergrund treten, doch nun verknüpfen sich beide Ereignisse sehr deutlich. Es geht in Berlin und Brüssel vor allem um die Formulierung einer adäquaten Antwort an den Kreml in der Causa Nawalny. Die Schärfe dieser Antwort wird die weitere Entwicklung in Belarus automatisch mitprägen, vielleicht sogar bestimmen. Die Worte, die die Bundesregierung geeint an Moskau richtete waren für das, was auf dem diplomatischen Terrain üblich ist, ungewöhnlich scharf. Zum ersten Mal wird nun auf oberster Regierungsebene offen über einen Stopp von Nord Stream 2 diskutiert. Bisher hatte die Bundesregierung den Bau dieser Gaspipeline, die russisches Gas an der Ukraine vorbei in die EU transportieren soll, als rein wirtschaftliches Projekt bezeichnet. Das war es nie. Energieprojekte dieser Größenordnung sind niemals apolitisch. Nord Stream 2 wird von vielen EU Ländern kritisch gesehen, und die USA belegten die am Bau beteiligten Firmen aus wirtschaftlichem Eigeninteresse mit Sanktionen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel ist seit Langem die treibende Kraft hinter dem mitunter brüchig wirkenden EU-Konsens, auf dessen Grundlage die im Zuge der Krim-Annexion 2014 und des Krieges in der Ostukraine ab 2014 verhängten personen- und sektorenbezogenen Sanktionen gegenüber Russland regelmäßig verlängert werden. Nun liefert der Fall Nawalny die Vorlage für eine Neuausrichtung der deutschen und vielleicht der EU-Politik gegenüber Russland. Ein nach außen demonstrierter EU-Konsens wäre im Sinne einer gemeinsamen Wertegemeinschaft wünschenswert.

In Moskau glaubt man noch nicht daran, dass es die deutsche Regierung ernst damit meint, Nord Stream 2 überdenken zu wollen. Aus Russland kommt derzeit die gewohnte Mischung aus Ablenkungsmanövern und absurden Anschuldigungen. Die Bundesregierung hat sich Zeit erbeten, doch der Zugzwang steigt täglich, auch unter dem Eindruck der Gewaltspirale in Belarus. Selbst personenbezogene Sanktionen hätten in dieser Situation nicht nur Symbolfunktion, wenn sie außer den Machthabern und ihren engsten Vertrauten auch einflussreiche Eliten mit Vermögen, Immobilien und dem Wunsch, ihre Kinder im Westen ausbilden zu lassen, treffen würden.

Ein kluges Sanktionspaket, ein Nord-Stream-2-Moratorium oder ein Stopp des Projekts haben ihren Preis. Doch der Preis von Menschenleben und Rechtstaatlichkeit ist eindeutig höher. Die deutsche Regierung – auch in ihrer Funktion als EU-Ratspräsidentschaft – ist nun gefragt, diese Handlungsoptionen auf dem diplomatischen Weg glaubwürdig in Richtung Moskau zu kommunizieren. Es wäre doch denkbar, dass dies auch der Auslöser für ein Zeichen von Putin an Lukaschenko sein könnte, in Belarus den Weg für Verhandlungen freizumachen.

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