Ach, Europa

Die kommende deutsche EU-„Corona-Präsidentschaft“ steht im Zeichen der Krise. Merkel muss improvisieren

06
06
06
06

Ach, Europa

Die kommende deutsche EU-„Corona-Präsidentschaft“ steht im Zeichen der Krise. Merkel muss improvisieren

Es sollte ein Höhepunkt der deutschen Ratspräsidentschaft werden: Beim EU-China-Gipfel am 14. September in Leipzig wollte Bundeskanzlerin Angela Merkel die Beziehungen zu Peking auf eine neue Stufe heben. „Wir reden auf Augenhöhe mit der neuen Weltmacht“ hieß Merkels hoffnungsvolle Botschaft für das Treffen mit Xi Jinping.

Doch daraus wird erstmal nichts. Der Gipfel ist der Coronakrise zum Opfer gefallen – wie so viele andere Highlights, die die Bundesregierung seit Monaten bis ins Detail geplant hatte. Wenn Merkel und ihre Minister am 1. Juli den halbjährlich wechselnden Ratsvorsitz übernehmen, müssen sie wieder ganz von vorne anfangen.

„Darauf waren wir nicht vorbereitet“, räumt der deutsche EU-Botschafter Michael Clauß ein. Nun müsse man eine „Corona-Präsidentschaft“ improvisieren – mit weniger Gipfeln und Ministertreffen, dafür umso mehr Videokonferenzen und Telefonschalten. Doch Brüssel ist dem technisch nicht gewachsen: Gerade einmal 30 Prozent der üblichen Arbeitskapazität stehe zur Verfügung, klagt Clauß.

Das ist ein Riesenproblem. Denn gleichzeitig sind die Erwartungen hoch, vielleicht zu hoch. „Die Deutschen“ sollen nicht nur das Corona-Krisenmanagement übernehmen, die nationalen Exit-Pläne koordinieren und den Wiederaufbau vorantreiben. Sie sollen auch die EU zusammenhalten, die im Frühjahr in den Abgrund geschaut hatte und auseinanderzubrechen drohte.

„Gemeinsam. Europa wieder stark machen“, so heißt die offizielle Antwort aus Berlin. Das Motto der deutschen Ratspräsidentschaft nimmt die gewaltigen Herausforderungen in den Blick, die mit der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg verbunden sind. Man sei bereit, „diese Führungsrolle als ehrlicher Makler und dynamischer Antreiber anzunehmen“, sagt Außenminister Heiko Maas.

Das wird nicht leicht. In den vergangenen Monaten wurde viel Porzellan zerschlagen, auch in Berlin. Auf dem Höhepunkt der Coronakrise hatte die Bundesregierung die Grenzen geschlossen und den Export von Hilfsgütern beschränkt. Deutschland handele egoistisch und verweigere dringend benötigte Solidarität, hieß es nicht nur in Rom.

Nun muss Merkel ihre Kritiker vom Gegenteil überzeugen. Einen ersten, großen Schritt hat sie schon gemacht: mit der deutsch-französischen Initiative für ein schuldenfinanziertes Wiederaufbauprogramm. Der Plan hilft nicht nur Italien oder Spanien. Er soll auch die europäische Wirtschaft modernisieren und fit für Klimawandel und Digitalisierung machen.

Doch noch ist dieses Programm, das die EU-Kommission auf 750 Milliarden Euro aufgestockt hat, nicht in trockenen Tüchern. Es wird eine der ersten Aufgaben der deutschen Präsidentschaft sein, das „Recovery Instrument“ und das damit verbundene neue EU-Budget durch den Rat zu bringen.

Bereits im Juli soll es dafür einen Sondergipfel geben, wenn möglich als reguläres Treffen in Persona. Denn ohne physische Nähe, betont Botschafter Clauß, wird sich keine Einigung herbeiführen lassen. Vertrauliche Vieraugengespräche und kleine Deals am Rande sind unerlässlich, um 27 EU-Staaten unter einen Hut zu bringen.

Merkel sei für diesen Job am besten geeignet, glauben viele Diplomaten in Brüssel. Doch sie muss auch am meisten Überzeugungsarbeit leisten. Während Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron schon im Frühjahr ein Bündnis aus neun Staaten geschmiedet hatte, um mehr Solidarität zu fordern, muss Merkel noch für ihren neuen Kurs werben.

Nicht nur die „Sparsamen Vier“ aus Österreich, den Niederlanden, Dänemark und Schweden haben große Vorbehalte gegen den Schuldenplan für den Wiederaufbau. Auch die Osteuropäer leisten Widerstand. Sie fürchten, dass die Hilfe für Südeuropa auf ihre Kosten geht, und sie wehren sich gegen eine geplante neue Rechtsstaats-Klausel.

Merkel muss beide Gruppen überzeugen. Beim jüngsten Budgetgipfel im Februar war ihr das nicht gelungen; das Treffen wurde ergebnislos abgebrochen. Diesmal sei die Lage jedoch anders, heißt es in Brüssel. Wegen Corona seien sich alle des Ernstes der Lage und der Dringlichkeit bewusst. Eine Einigung sei daher schon im Sommer möglich.

Doch im Herbst kommen bereits neue, schwere Aufgaben auf den deutschen EU-Vorsitz zu. Dann geht es um die künftigen Beziehungen zu Großbritannien. Bis Oktober muss ein Freihandelsvertrag stehen, sonst droht ein „No Deal“. Da Großbritannien im Handel stärker von der EU abhängig ist als umgekehrt, könnte London am Ende doch noch einlenken.

Bisher sieht es allerdings nicht nach einer Einigung aus. Die Deadline ist am 31. Dezember – der letzte Tag der deutschen Präsidentschaft könnte auch der bitterste werden. Und dann ist da noch die Präsidentschaftswahl in den USA. Auch sie fällt in die Endphase des deutschen Semesters, auch danach könnte Merkel gezwungen sein, die Scherben zusammenzukehren.

Fest steht, dass sie es noch einmal mit Donald Trump zu tun bekommt. Auch ihn wollte Merkel eigentlich schon im September treffen, beim G7-Treffen in Washington. Doch auch dieser Gipfel wurde abgesagt – wegen Corona.

Weitere Artikel dieser Ausgabe