Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Wenn in der kommenden Woche die Leipziger Buchmesse beginnt, wird wieder viel über das Lesen sinniert. Lesen die Menschen tatsächlich immer weniger? Hat das Buch noch eine Bedeutung? Vor allem: Sind große Geschichten nicht viel angenehmer über die großen Streamingdienste zu konsumieren? Ein Buch aufzuschlagen und ein paar hundert Seiten durchzuhalten, erscheint inzwischen vielen deutlich mühsamer.
Es ist nicht ganz einfach, zu alledem eine präzise Bestandsaufnahme zu bekommen. Mal wähnt sich die Literaturbranche in der Krise und das Lesen der Bücher auf dem Abstieg. Dann wieder nicht. Das Jahr 2021 war jedenfalls ein sehr gutes für die Verlage und Buchhandlungen, 2022 eher durchwachsen. Wie es sich dieses Jahr ausgeht, weiß noch niemand.
Pessimistisch muss man derzeit nicht sein. Lesen scheint in Mode – gerade in Zeiten des Internets, das einer Vielzahl von Influencerinnen und Influencern des Lesens jede Möglichkeit gibt, ihre Lieblingsbücher an eine eindrucksvoll breite Leserschaft heranzutragen. Natürlich geht es dort nicht nur ums Literarische, vielfach auch um Werke jenes Genres, das früher mal „Groschenroman“ oder heute im Film-Geschäft „Romcom“ heißt, romantische Komödie. Aber es wird eben auch sehr viel anderes empfohlen.
Dass das Lesen wichtig ist, weiß jeder. Es trainiert das Gehirn, die Auffassungsgabe, die Ausdrucksfähigkeit. Angeblich reduziert es das Stressempfinden. Lesen verringert, so heißt es, sogar die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken und lindere Depressionen.
Einen der zauberhaftesten Begründungen für die Bedeutung des Lesens hat einst der kanadische Literaturwissenschaftlicher und Kritiker Northop Frye formuliert, der als einer der weltweit einflussreichsten Literaturtheoretiker des 20. Jahrhunderts galt. Vor genau sechzig Jahren legte er mit seinem schmalen Bändchen The educated imagination einen Essay über die Literaturkritik vor, ein vielbeachtetes Werk, dem neben scharfer Analytik eben auch seine große Passion fürs Lesen anzumerken war. Es gebe, schrieb er, einen Unterschied zwischen der Welt, in der der Mensch lebe und der, in der er gerne leben würde. Die erste sei die Realität, die zweite falle indes in den großen Bereich der Imagination. Die Naturwissenschaften erklärten die Welt, die die Menschen umgebe. Mit der Welt menschlicher Vorstellungen aber habe diese nicht unmittelbar etwas zu tun. Auf der Ebene der Imagination kommt für Frye die Literatur ins Spiel. „Die Kunst beginnt an der Grenze der Welt, die wir uns vorstellen, die wir uns in Gedanken konstruieren, nicht der, die wir unmittelbar sehen.“ Literatur präge die Vorstellungen der Menschen, beeinflusse ihr Denken. Mehr noch: Literatur sei dazu da, die Vorstellungskraft der Menschen „zu bilden“, sie sozusagen zu erziehen und die Menschen so zu befähigen, sich Dinge vorzustellen, die möglich sein könnten. „Einbildungskraft, Phantasie und Vorstellungsgabe ist nicht nur eine Angelegenheit der Schriftsteller, schrieb Frye, sondern eines jeden. Literatur hilft, Vorstellungen von einer Welt zu entwickeln, in der man leben möchte. Schon aus diesem Grund erscheint das Lesen gerade heute wichtiger denn je: In welcher Welt wollen wir leben?