Asymmetrisches Gleichgewicht

Die Opposition in Belarus kämpft gegen Lukaschenko – und sucht nach außenpolitischer Orientierung

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PICTURE ALLIANCE/STRINGER/TASS/DPA
Gemeinsam protestieren: Minsk gegen Lukaschenko
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Gemeinsam protestieren: Minsk gegen Lukaschenko

Asymmetrisches Gleichgewicht

Die Opposition in Belarus kämpft gegen Lukaschenko – und sucht nach außenpolitischer Orientierung

Zwei Monate dauern die Proteste in Belarus inzwischen an. Sie hatten sich nach der Präsidentschaftswahl am 9. August durch das Ausmaß gewaltsamer Repressionen sowie die Dimensionen der Wahlmanipulation rasch zu einer Massenmobilisierung verdichtet. Ein Ende der Proteste ist bisher nicht in Sicht – ebenso wenig wie der Rücktritt von Alexander Lukaschenko.

Es hat sich eine Art asymmetrisches Gleichgewicht der Kräfte etabliert: Auf der einen Seite stehen je nach Wochentag und Aufgebot der Sicherheitskräfte zehn- bis hunderttausende von Protestierenden, auf der anderen Seite stehen Lukaschenko und sein Sicherheitsapparat. Beim kompromisslosen Einsatz von Gewalt gegen friedliche Protestierende kann Lukaschenko auf die rhetorische und finanzielle Unterstützung des russischen Präsidenten Wladimir Putin vertrauen. Ob Putin allerdings darüber hinaus bereit ist, Lukaschenko mit russischen Sondereinheiten zu stützen, ist weiterhin ungewiss. Der Preis für ein gewaltsames Eingreifen auf Seiten Lukaschenkos wäre für Putin hoch: Er würde das Vertrauen der traditionell russlandfreundlichen Bevölkerung im Nachbarland verlieren. Ob ein solches Handeln in Russland populär wäre, ist ebenfalls schwer abzusehen. Zum jetzigen Zeitpunkt beobachtet der Kreml die Ereignisse genau, ist sich der vollständigen politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit Lukaschenkos gewiss – und wartet ab. Eine mittel- bis längerfristige Strategie zeichnet sich bisher nicht ab; vielleicht gibt es sie noch gar nicht.

Die Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja hat aus dem Exil in Litauen ein enges Netz aus diplomatischen Kontakten zur EU und zu den Regierungen zahlreicher EU-Mitgliedsstaaten aufgebaut und versucht damit, den Druck von außen auf Lukaschenko zu erhöhen. Eine zweite Runde von personenbezogenen Sanktionen, darunter auch gegen Lukaschenko selbst, wird gerade von der EU auf den Weg gebracht. Diese Sanktionen haben vor allem Symbolwirkung.

Darüber hinaus diskutiert der Bundestag über ein Hilfspaket für Belarus, in dem explizit von Unterstützung für die Opposition die Rede ist. Damit lässt die deutsche Politik zunehmend ihre zurückhaltende Position hinter sich, die der Sorge geschuldet war, eine Parteinahme könne in Moskau als Provokation und Vorwand für eine Intervention dargestellt werden. Die baltischen Länder und Polen hatten innerhalb der EU in ihrem Sanktionsregime, der Aufnahme von Verfolgten und Kooperation mit der belarusischen Zivilgesellschaft bereits ein anderes Tempo vorgelegt. Die Bevölkerung in der EU hat sich bislang nur sehr vereinzelt mit der belarusischen Gesellschaft solidarisch gezeigt. Man hätte sich mehr öffentlich sichtbare Unterstützung für die Forderung nach einem demokratischen Neuanfang und die Verurteilung der Gewaltanwendung durch das Lukaschenko-Regime erhofft. Offensichtlich ist Belarus weiterhin auf der mentalen Landkarte weiter entfernt, als es die geografische Distanz und historischen Verflechtungen nahelegen.

Im Rahmen des internationalen Forschungsprojekts MOBILISE ist das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) an einer seit der Präsidentschaftswahl online durchgeführten Befragung der Protestierenden in Belarus beteiligt (die dort genannten Zwischenergebnisse beziehen sich auf ca. 11 000 Befragte). Zu den beeindruckenden Zahlen gehört die Tatsache, dass auch jetzt noch 70 Prozent aller befragten Protestierenden optimistisch auf den Erfolg der Proteste setzen und dass 80 Prozent zum ersten Mal in ihrem Leben an politischen Protesten beteiligt sind. Diese umfassende Politisierung der Gesellschaft gehört zu den wichtigsten Auswirkungen der vergangenen zwei Monate.

Die Führungsriege des oppositionellen Koordinierungsrats hat immer wieder betont, dass die derzeitigen Entwicklungen eine rein innenpolitische Angelegenheit seien, und vor der Einmischung durch Russland oder die EU gewarnt. Es wurde bestritten, dass es sich um eine Neupositionierung von Belarus in Bezug auf den Westen handele. Inzwischen ist diese Rhetorik heruntergefahren worden. Laut Umfrage ist die Zahl derer, die unter ihren Hoffnungen engere Beziehungen mit der EU oder Russland genannt hatten, mit 2 bzw. 1 Prozent verschwindend gering.

Auf die Frage nach den außenpolitischen Orientierungen ergibt sich jedoch eine klare Polarisierung: Knapp unter 40 Prozent der Befragten wünschen sich engere Beziehungen zur EU, und knapp über 40 Prozent lehnen diese ab. Eine Union mit Russland, die es auf wirtschaftlicher und militärischer Ebene in Ansätzen bereits gibt, befürworten nur etwa 8 Prozent. Die Frage, ob Russland die Hauptbedrohung für Belarus sei, wurde von 38 Prozent bejaht und von 37 Prozent verneint.

Trotz der nachvollziehbaren Strategie der Mitglieder des Koordinierungsrats, die geopolitischen Implikationen der Proteste nicht zu betonen, zeigt das Stimmungsbild bereits deutlich, dass es polarisierte Meinungen zu den Beziehungen zur EU und Russland gibt. Diese Polarisierung wird sich mit der Zeit verstärken und den politischen Diskurs expliziter prägen. Die Proteste haben sich vom Ruf nach Neuwahlen zu einer Forderung nach einem umfassenden demokratischen Wandel weiterentwickelt. Da sich die demokratischen Werte mit der EU und nicht mit Russland verbinden, schafft diese Forderung eine neue Art der diskursiven Nähe zur EU und eine größere Distanz zu Russland. Damit ist eine außenpolitische Neuorientierung in der Binnenlogik der Proteste für die Zeit nach Lukaschenko angelegt. Wann diese Zeit beginnt, ist immer noch unklar. Fest steht, dass er jegliche Legitimation verloren hat und gehen muss, aber die Frage ist, wann und auf welchem Weg.

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