Auf dem Weg in die Dritte Republik

Warum eine Ampelkoalition gut für Deutschland wäre

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PICTURE ALLIANCE/ULRICH BAUMGARTEN
Neues Deutschland? Olaf Scholz, Christian Lindner und Annalena Baerbock
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PICTURE ALLIANCE/ULRICH BAUMGARTEN
Neues Deutschland? Olaf Scholz, Christian Lindner und Annalena Baerbock

Auf dem Weg in die Dritte Republik

Warum eine Ampelkoalition gut für Deutschland wäre

Während in den Hauptstadtbüros der Medien bereits eifrig über künftige Ressortzuschnitte und munter über die Namen von Ministerinnen und Ministern spekuliert wird und die möglichen Kompromiss- oder Bruchlinien zwischen den potenziellen Koalitionspartnern fast allwissend prognostiziert werden, sollte man als außenstehender Beobachter noch einmal kurz innehalten, um zu begreifen, welch veritable Erschütterung unseres Parteiensystems sich am Sonntag ereignet hat. Auch in Deutschland haben wir jetzt ein buntes Acht-Parteien-Parlament, wenn man den SSW und die CSU hinzuzählt.

Die Ereignisse der vergangenen Tage, aber auch die Wochen und Monate zuvor, belegen eindrucksvoll, dass der Befund gerade für die CSU zutrifft. Der Anteil der Mandate an der Fraktionsgemeinschaft mit der CDU war noch nie so hoch wie seit diesem Sonntag – fast 30 Prozent. Die Mandatszahl der CDU im Deutschen Bundestag ist nur 1949 mit 115 niedriger gewesen als aktuell mit 151. Damals hatte der Bundestag allerdings nur 420 Sitze gegenüber den 735 in der kommenden Legislaturperiode. Kein Wunder, dass trotz des vergleichsweise schlechten Abschneidens der CSU das Selbstbewusstsein ihres Vorsitzenden Markus Söder ungebrochen scheint. Seine CSU-Landesgruppe hat bis auf den Wahlkreis München-Süd, der an die Grüne Jamila Schäfer ging, alle Direktmandate in Bayern gewonnen.

Lage der Nation

Gleichwohl: Es gibt aktuell keine große kraftvolle Volkspartei mehr, sondern eine nach links verschobene SPD, die – wie ein Osterwunder im Herbst – gut 5 Prozent zugelegt und ein gutes Viertel der Wählerinnen überzeugt hat, eine arg gerupfte Union, die nach 2013 zum zweiten Mal in Folge dramatische Verluste hinnehmen musste und nicht mal mehr ein Viertel der Wähler erreichte, zwei Aufsteigerparteien mit gut 11 (FDP) und fast 15 Prozent (Grüne), die sich fast die Hälfte der Jung- und Erstwähler geteilt und deren Wunsch nach Veränderung des Status quo (mehr Freiheit und/oder mehr Klimaschutz) erfolgreich auf ihre Fahnen geschrieben haben. Über die AfD (noch immer zweistellig, aber fallend) und die Linkspartei (knapp 5 Prozent, aber mit deutlich abnehmender Tendenz) muss hier kein Wort verloren werden. Das ist die Lage.

Trotz dieser bunten Zusammensetzung unseres Parlaments schien sich schon am Tag danach herauszumendeln, welche Koalition künftig die viertgrößte Industrienation der Welt regieren wird. Alles läuft auf eine Ampel-Regierung unter einem Bundeskanzler Olaf Scholz hinaus, nachdem die Union den halsstarrigen Regierungsbildungsanspruch ihres Kanzlerkandidaten und CDU-Vorsitzenden Armin Laschet vom Wahlabend am Tag danach eingeebnet hat. Dieses Zeichen der Demut vor dem Wahlergebnis war nötig, um als klarer Wahlverlierer noch ernst genommen zu werden von der Bevölkerung.

Selfie-Truppe trifft sich zum Plaudern

Bemerkenswert war der Ausfallschritt der beiden Aufsteiger-Parteien Grüne und FDP, sich noch am Wahlabend zu einem „Traumabewältigungstreffen“ zu verabreden. Die „Vorsondierung“ war klug – und offenbart zwei gemeinsame Wünsche: Erstens darf sich 2017 (das Scheitern von Jamaika) nicht wiederholen. Und zweitens haben Koch-und-Kellner-Metaphern ausgedient. Die Ampel-Koalition wird eine Koalition auf Augenhöhe – oder sie wird von Beginn das Element der Fragilität und des Scheiterns in sich tragen.

Übrigens weiß das auch der künftige Kanzler Scholz, der dies seiner siegestaumelnden SPD allerdings noch nahebringen muss. Er weiß aber auch, dass sein Blatt nicht besser aussehen könnte, denn die Grünen wollen nach über 15 Jahren Opposition unbedingt regieren; und die FDP muss nach ihrer Dezember-Flucht aus den Jamaika-Verhandlungen 2017 dieses Mal Regierungsverantwortung übernehmen.

Zeichnen sich gerade die Konturen einer „Dritten Republik“ ab? Am Anfang der ersten stand 1949 Konrad Adenauer, die zweite ermöglichte Helmut Kohl mit der beherzt vorangetriebenen Wiedervereinigung 1989/1990, die dritte könnte nun nun mit einem durchgeschüttelten Parteiensystem, das im Kern eine Folge der seit geraumer Zeit anhaltenden gesellschaftlichen Fragmentierung ist, folgen. Was alle Neu-Begründungen der Bundesrepublik in den Phasen danach einte, war und ist eine große Integrationsaufgabe der Parteien. Vor allem die Regierungsparteien in Bund und Ländern waren und sind gefordert, diese Integrationsleistung zu übernehmen.

Architekturen und Texturen

Rückblickend muss man anerkennen, dass fast alle an Regierungen auf Bundes- und Länderebene beteiligten Parteien sich dieser Aufgabe gestellt haben – bis auf die AfD, die weiterhin in selbstgewählter, rechtsextrem-radikaler Opposition zum Staat die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und Fortschritts verneint und ablehnt. Auch die nächste Bundesregierung und die sie tragende Koalition wird neben all ihren politischen Beschlüssen, Vorhaben und Projekten diese Integrationsaufgabe leisten müssen. Denn unser Land ist Gott sei Dank weiblicher, bunter, internationaler, diverser geworden. Aber wir stehen vor der gigantischen Aufgabe, eine völlig neue industrielle Architektur, eine nachhaltige Fertigungstextur mit nachhaltig-digitalen Produkten wie Dienstleistungsstrukturen und modernisierte Infrastrukturen zu entwickeln.

Diese Herausforderung kann eine Ampelkoalition besser organisieren, strukturieren und steuern als jede andere denkbare politische Konstellation. Man muss nicht allein die Kernkompetenzen der drei Parteien bemühen, um sich klarzumachen, warum eine Ampel im Moment nahezu politisch alternativlos ist. Es ist eine Koalition der demokratischen Gewinner-Parteien. Und es ist zweifelsohne so, dass die großen politischen und gesellschaftlichen Trends und Erwartungen von Bürgern und Betrieben das an Stärken widerspiegeln, über die drei potenziellen Partner verfügen: soziale Ausgleichsfähigkeit und Regierungserfahrung in vielerlei Konstellationen, klimapolitische und ökologische Entschiedenheit und schließlich marktwirtschaftliche und liberale Überzeugungskraft. Alle drei Kompetenzkräfte sind – gebündelt und klug ausbalanciert – in den kommenden Jahren unerlässlich, wenn unser Land weiter Wachstum und Wohlstand für alle sichern will.

Unterschiedliche Traditionsquellen, aber keine Obstruktionisten

Denn klar ist bei allem, was jetzt ansteht, dass wir die sozialen Nebenwirkungen der Transformation für Millionen Menschen, die im unteren Drittel der Einkommensskala arbeiten und/oder leben müssen, im Blick behalten und staatlich werden abfedern müssen. Dass es dazu eines starken wirtschaftlichen Fundaments bedarf, wissen übrigens alle drei Parteien, auch wenn ihr jeweiliger Zugang zu dieser Grundüberzeugung sich aus sehr unterschiedlichen historischen Traditionen und politischen Prinzipien speist und entwickelt hat. Letzteres ist auch gut so.

Wie hoch inzwischen die Zahl von Normalbürgern und wirtschaftlichen Entscheiderinnen in Unternehmen ist, Frauen und Männer gleichermaßen, die sich eine Ampelkoalition vorstellen können, ist selbst für mich überraschend. Umso mehr irritiert es mich, dass in meiner Geburts- und Heimatstadt Berlin bestimmte Kräfte in der SPD eine Ampelkoalition geradezu mit kindlichem Trotz und taktischen Manövern bekämpfen – selbst die, die für den ruinösen Zustand der Berliner Politik in führenden Funktionen verantwortlich waren. Es bleibt zu wünschen, dass dort bald mehr Nachdenklichkeit einkehrt. Wer ständig und zu Recht gegen das „Weiter-so“ öffentlich aufbegehrt, der sollte die teilweise beschämenden Zustände in Berlin nicht konservieren oder gar verteidigen. Auch in der Hauptstadt unseres Landes braucht es einen anderen Geist und endlich einen Neustart. Damit Berlin als Metropole in Europa auf keinem Feld mehr Vergleiche scheuen muss.

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