Die Ampel-Regierung zeigt sicherheitspolitische Solidität und verspricht außen- und europapolitische Aufbrüche. Annalena Baerbock dürfte die neue Linie gut vertreten
Die Ampel-Regierung zeigt sicherheitspolitische Solidität und verspricht außen- und europapolitische Aufbrüche. Annalena Baerbock dürfte die neue Linie gut vertreten
Koalitionsverträge sind Schriftstücke der besonderen Art. In erster Linie sind sie nach innen gerichtet: ans eigene Parteivolk beziehungsweise die Gremien, die der gewünschten Regierungsbildung zustimmen müssen, und an die politischen Partner, denen man selbst in Zeiten von Zitrus-Selfies nie ganz über den Weg traut und die man auf diese Weise festnageln will. Dass die Koalitionsverträge immer länger werden – mit 177 Seiten übertraf der vergangene Woche vorgestellte den dreieinhalb Jahre alten Vorgänger um zwei Seiten – zeugt nicht nur davon, dass Politik immer komplexer wird, sondern eben auch von der Hoffnung, dass sich zukünftiges Regierungshandeln so festschreiben ließe.
Am Ende sind Koalitionsverträge aber vor allem Absichtserklärungen, die früher oder später auf politische Realitäten prallen. Und sie halten oft nicht, was sie versprechen, gerade in der Außenpolitik. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD von 2018, vom unterlegenen SPD-Kanzlerkandidaten und „Dann-doch-nicht-Außenminister“ Martin Schulz wesentlich mitverhandelt, stellte die Europapolitik allem anderen voran und versprach einen „neuen Aufbruch für Europa“.
Dass sich ein solcher während der letzten Regierung von Angela Merkel vollzogen hätte, lässt sich schwerlich behaupten. Immerhin kratzte die Bundeskanzlerin unter dem Eindruck der Pandemie-bedingten EU-Krise im Juli 2020 zumindest die eine europapolitische Kurve und brachte zusammen mit Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron den Europäischen Wiederaufbaufonds (Next Generation EU) auf den Weg – ein vorerst einmaliges Instrument, das dennoch den Weg in die Zukunft weist.
Dieses Mal haben die Ampel-Parteien die Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik in den hinteren Teil des Koalitionsvertrags verlegt. Und Noch-Außenminister Heiko Maas sprach vergangene Woche beim Berliner Forum Außenpolitik der Körber-Stiftung mit pessimistischem Grundton vom einem „außenpolitischen Realismus“, der nun angezeigt sei.
Doch daraus sollte man nicht auf mangelnde Ambitionen schließen – im Gegenteil: Von „Mehr Fortschritt wagen“, wie das von Willy Brandt adaptierte Motto des Papiers lautet, zeugt nicht nur die industrie- und gesellschaftspolitische Agenda der Regierung von Olaf Scholz, sondern auch, wie sich Deutschland in und gegenüber Europa und dem Rest der Welt zukünftig verhalten will.
Sicherheitspolitik mit Schönheitsfehler
Manches überrascht in seiner Klarheit: Über das Bekenntnis zum Bündnis mit den Vereinigten Staaten und zur NATO („zentraler Pfeiler“, „unverzichtbarer Teil unserer Sicherheit“) hinaus will die kommende Regierung an der nuklearen Teilhabe festhalten und „zu Beginn der Legislaturperiode“ ein Nachfolgesystem für den dazu notwendigen, aber veralteten Tornado beschließen. Die Anschaffung bewaffneter Drohnen zum Selbstschutz der Soldatinnen und Soldaten, die vergangenen vier Jahre von der SPD blockiert, steht nun auf der To-do-Liste, wie überhaupt die Bundeswehr „bestmöglich personell, materiell sowie finanziell verlässlich“ ausgestattet werden soll.
Mehr noch: „Die NATO-Fähigkeitsziele wollen … wir erfüllen und entsprechend investieren.“ Dass man – in Reverenz an Teile der linken Flügel der Grünen und der SPD – dem Atomwaffenverbotsvertrag „als Beobachter“ beitreten möchte, läuft dem Bekenntnis zu Aufrechterhaltung „eines glaubwürdigen Abschreckungspotenzials“ zuwider. Aber das war wohl der innerparteiliche Preis, den NATO-verträglich abzumoderieren noch schwierig, aber nicht unmöglich werden dürfte.
All das wird viel Geld kosten, und die Ampel-Koalition hat dazu lobenswerterweise eine Idee Wolfgang Ischingers, des Vorsitzenden der Münchner Sicherheitskonferenz, aufgegriffen, die Debatte über das Zwei-Prozent-Ziel der NATO durch die Ausrufung eines Drei-Prozent-Ziels abzulösen: Denn laut Koalitionsvertrag soll Deutschland für „äußeres Handeln“ zukünftig drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufwenden – eine Erhöhung um 55 Prozent, denn legt man die aktuellen Etats von Verteidigungsministerium, Auswärtigem Amt und Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zusammen, landet man bei knapp weniger als zwei Prozent. Dieses Ziel will die Regierung zwar nur „langfristig“ anstreben, aber sie dürfte kaum umhinkommen, größeres Tempo zu entwickeln.
Europäisierung
Auch europapolitisch hat die neue Regierung viel vor. „Als größter Mitgliedstaat werden wir unsere besondere Verantwortung in einem dienenden Verständnis für die EU als Ganzes wahrnehmen“, versprechen die Koalitionäre (also auch die der FPD). Die „strategische Souveränität“ Europas soll erhört werden, Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedsländern herrschen, mit den Partnern eine europäische „Investitionsoffensive“ angestoßen werden – und selbst Änderungen an den Europäischen Verträgen und ein „europäischer Verfassungskonvent“ sind nicht ausgeschlossen.
Der Wunsch nach größerer Europäisierung wichtiger außenpolitischer Felder durchzieht das Papier und dürfte gegenüber China die größten Auswirkungen haben, selbst wenn Olaf Scholz nachgesagt wird, an Merkels bisherigem Kurs gegenüber Peking nicht viel auszusetzen zu haben. Dass sich Deutschland eben auch im „Systemkonflikt“ mit der Kommunistischen Partei Chinas befindet, ist erstmals festgeschrieben. Und eine „umfassende China-Strategie“ im Rahmen „einer gemeinsamen EU-China-Politik“, die zudem noch „eng“ transatlantisch abgestimmt ist, dürfte doch einiges anders aussehen als der bisherige übervorsichtige, unstrategische Kurs.
Für all dies wird erstmals eine Frau stehen: Annalena Baerbock, die erste deutsche Außenministerin in 151 Jahren Auswärtiges Amt. Im Wahlkampf zeigte sich, dass ihr Umfeld, ihre Beraterinnen und Berater offenkundig nicht die Qualitäten mitbrachten, die für das Streben nach dem Kanzleramt notwendig sind. Wechsel wären wohl angezeigt. Denn in einem Außenministerium, das an Bedeutung eingebüßt hat und nicht immer den agilsten Eindruck macht, ist Kompetenz und Fehlervermeidung die Grundlage für die beherzte, engagierte Führung, die nach den matten Maas-Jahren dringend notwendig ist.
Grün-Grüne Achse
Dass die grüne Spitzenkandidatin nicht Vizekanzlerin wird, dürfte sich noch als Fehler erweisen. Denn Konflikte mit dem in außenpolitischen Fragen mittlerweile übermächtigen Kanzleramt lassen sich so nicht auf die „Chefebene“ hieven. Da der Koalitionsvertrag aber europäische strategische Souveränität vor allem mit Dingen wie Energieversorgung, Rohstoffimporte und digitale Technologie in Zusammenhang bringt, besteht zumindest die Chance auf eine grün-grüne Achse mit Vizekanzler, Klima- und Wirtschaftsminister Robert Habeck. Wenn dieses Zusammenspiel gut funktioniert, könnte dies die deutsche Außenpolitik tatsächlich revolutionieren – zumindest ein bisschen.
„Besinnt Euch darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will“, sagte der offensichtliche Inspirator der Koalition, Willy Brandt, 1992 bei seinem Abschied als Vorsitzender der Sozialistischen Internationale, „und dass man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll“. Dass die neue Regierung das begriffen hat, ist ein guter Ausgangspunkt.