Deutschland zwischen Aufatmen und Atemnot – alles, was Sie über Delta wissen müssen
Deutschland zwischen Aufatmen und Atemnot – alles, was Sie über Delta wissen müssen
Nie haben wir den Sommer so sehr herbeigesehnt wie in diesem Jahr, das eigentlich – so hofften wir Silvester noch – ein Post-Corona-Jahr werden sollte. Stattdessen Schnee ohne Ende, plötzlich Frühling im Februar, dann wieder Schnee und Lockdown bis weit in den Mai. Haben Sie das Foto aus Tübingen gesehen, wo die Menschen vor anderthalb Wochen Schnee in der Innenstadt geschaufelt haben?
Aber an den Sonnentagen lässt Deutschland endlich die Sau raus. Freizeitstress, Biergarten, andauernd wird gegrillt. Und die Zahlen scheinen ihren Segen zu geben: Erste Landkreise sind schon länger bei einer Inzidenz von Null, Impfstoff ist auch endlich da, und das Leben ist fast wieder normal. Außer vielleicht für die, die im vergangenen Jahr ihre Eltern oder Geschwister an Corona verloren haben und sich, wenn überhaupt, nur noch per Videotelefonat von ihnen verabschieden konnten.
Beim europäischen Sommerfest 2021 sitzt jetzt als dreizehnte Fee die Deltavariante mit am Tisch. In England macht sie gerade die ganze Mühe des vorigen Lockdowns zunichte, die große Freiheit wird erstmal um einen Monat verschoben. Und wie ist die Lage in Deutschland? Was erwartet uns im Herbst? Wir tragen zusammen.
Zahlen, bitte
Immer mittwochs informiert das Robert Koch-Institut in einem Bericht über die Virusvarianten. Diese Woche lag der Anteil der Deltavariante in einer Stichprobe bei 37 Prozent (zum Vergleich: in England mehr als 90 Prozent) und hatte sich über vier Wochen jeweils mehr als verdoppelt.
Diese Zahl sagt ohne mehr Informationen aber noch nicht viel aus. Die Fallzahlen sinken derzeit, aber was passiert, wenn wir mit einer ansteckenderen Variante in die kalte Jahreszeit starten? Wir erinnern uns: Die Einschränkungen gab es vor allem, weil die Regierung eine Überlastung der Intensivstationen verhindern wollte. Diese kommt zustande, wenn sich zu viele Menschen in kurzer Zeit infizieren und schwere Verläufe erleiden. Die beiden Kernfragen sind also: Wie ansteckend ist die Variante? Und: Wie schwer ist der Krankheitsverlauf?
Delta verbreitet sich schneller
Wissenschaftler sind sich inzwischen einig, dass die Deltavariante nicht nur leichter übertragen wird, sondern sich auch besser vor Antikörpern tarnt. Diese können durch eine Impfung oder eine frühere Infektion im Körper vorhanden sein. Das heißt: Der Impfschutz ist bei der Deltavariante geringer.
Genaue Prozentzahlen, um wie viel ansteckender die Deltavariante als die Alphavariante ist (früher englische), variieren je nach Untersuchung (zum Beispiel aus England oder Indien) zwischen 40 und 60 Prozent. Wenn das Virus in einen Haushalt kommt, ist laut den englischen Zahlen die Chance deutlich höher (um 64 Prozent im Vergleich zur Alphavariante), dass sich der Rest der Familie ansteckt.
Es reichen außerdem viel kürzere Begegnungen, um sich zu infizieren. Fünfzehn Minuten galt früher, in Australien sollen sich allerdings in einem Einkaufszentrum dutzende Menschen im Vorübergehen mit der Deltavariante angesteckt haben. Das RKI und Christian Drosten halten sich bei der Bewertung dieses Falls eher zurück. Klar ist aber inzwischen, dass Patienten mit der Deltavariante eine höhere Viruslast aufweisen, durch die sie andere leichter anstecken können, etwa durch ihre Atemluft.
Ein Infizierter mit Delta steckt also im Schnitt wahrscheinlich mehr Menschen an als ein Infizierter mit Alpha. Und das bedeutet für die Herdenimmunität: Es braucht mehr Geimpfte, als bisher angenommenen, um die Verbreitung auszubremsen.
Delta verursacht schwerere Verläufe und ist tödlicher
Zu den Verläufen bei der Deltavariante liegt bisher nur eine Handvoll Studien vor. Diese weisen aber alle in die gleiche Richtung. Eine schottische Studie kommt zu dem Schluss, dass für Ungeimpfte, die an der Deltavariante erkranken, ein um 85 Prozent höheres Risiko besteht, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen, als wenn sie an der Alphavariante erkranken. Eine englische Studie hat bereits im Februar eine deutlich höheres Sterberisiko errechnet.
Anders sieht es für Menschen aus, die bereits ein- oder zweimal geimpft sind. Eine Studie der englischen Gesundheitsbehörde kommt zu dem Schluss, dass Geimpfte vor der Deltavariante fast genauso gut geschützt sind wie vor der Alphavariante. Nach der Erstimpfung liegt der Schutz bei 78 Prozent (α) bzw. 75 Prozent (δ). Nach der Zweitimpfung: 92 Prozent (α) bzw. 94 Prozent (δ).
Das bedeutet aber auch, dass die Inzidenzzahlen immer weniger Aufschluss darüber geben können, wie schwer uns die Pandemie wirklich trifft. Denn Geimpfte, wenn sie sich infizieren, sind vor schweren Verläufen gut geschützt. Drosten glaubt, dass sich im Laufe des Sommers Fallzahlen und schwere Verläufe weiter entkoppeln werden.
Deswegen empfiehlt eine Gruppe von Wissenschaftlern rund um Andreas Stang, auch andere Daten zur Gefahrenbewertung zu nutzen, etwa „Angaben zur Intensivbettenbelegung sowie [zur] Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19“. Aus England ist bekannt, dass auch Menschen mit doppelter Impfung mit Corona gestorben sind, es handelte sich zum allergrößten Teil um ältere Menschen mit Vor- und Begleiterkrankungen. Die meisten sind aber durch die Impfungen sehr gut geschützt.
Ist Deutschland gewappnet?
Zusammengefasst: Die Deltavariante breitet sich schneller aus und ist für Ungeimpfte gefährlicher. Wer doppelt geimpft ist, stirbt wahrscheinlich nicht an Corona. Die Zweitimpfung ist entscheidend, um das Rennen gegen Delta zu gewinnen. Und wie ist Deutschland in diesem Rennen aufgestellt? Einige Dinge sprechen dafür, dass Deutschland im Vergleich zu England ein paar Vorteile hat.
Vorteil 1: Das Virus kommt mit Verzögerung hier an.
Auf den ersten Blick ist erstaunlich, dass die Coronazahlen in England so hoch sind, obwohl die Impfquote besser ist als in Deutschland. Der Grund: In England wurde die ansteckendere Deltavariante vielfach ins Land gebracht, und zwar durch den viel zu spät ausgesprochenen Einreisestopp für Indien – Boris Johnson wollte zuvor noch mit seinem indischen Kollegen Narendra Modi vor Ort einen üppigen Handelsvertrag eintüten.
Christian Drosten erklärt, das Virus habe zunächst leichtes Spiel gehabt, weil es sich „in bestimmten Communities […] besser verbreiten kann, wo es zum Beispiel nicht so eine gute Impfabdeckung gibt und wo relativ viel von dem Delta-Virus eingetragen wurde, wo vielleicht auch Haushaltsgrößen größer sind“. In Deutschland haben wir einen zeitlichen Vorsprung dadurch, dass das Virus nicht in kurzer Zeit und in hoher Zahl aus Indien eingebracht wurde. In England ist die Deltavariante inzwischen in die breite Bevölkerung gewandert, so wie es auch gerade in Deutschland passiert.
Vorteil 2: Deutschland ist raus
Die englische Gesundheitsbehörde gibt an, dass sich zahlreiche Menschen im Restaurant mit der Deltavariante anstecken. Wer zuletzt im Biergarten oder sogar beim Public Viewing war, den wird das nicht wundern. Dort lautet die AHA-Regel: Alkohol + Heiterkeit + Abknutschen. Die Nachwirkungen der ausgelassenen englischen Fans, die am Dienstag ohne Maske und ohne Abstand im und ums Stadion den Sieg feierten, werden wir in 14 Tagen bewundern können. Auch dort ein möglicher leichter Vorteil für Deutschland: Wir sind nicht mehr dabei.
Vorteil 3: Sommerferien – wenn man sie denn nutzt
In England und beim Impfweltmeister Israel sind es vor allem Schulkinder, die sich mit der Deltavariante anstecken. Schulen gelten als Hotspots. Dort könnte für Deutschland ein weiterer Vorteil liegen, denn die Schulen sind nun erstmal geschlossen. Das bremst hoffentlich die Ausbreitung, nützt aber nichts, wenn das Virus zu Schulbeginn massenhaft aus dem Urlaub eingeschleppt wird. Oder wie die taz schreibt: „Wenn jetzt alle brav in die Ferien fliegen, müsst ihr im Herbst nicht in die Schule.“
Die Politik nutzt jetzt sicher die Sommerferien, um die angekündigte Rückkehr in den vollen Präsenzunterricht vorzubereiten. Oder? Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres lässt pünktlich zu Beginn der Sommerferien verlauten, dass ab dem neuen Schuljahr insgesamt 7750 Luftfilter bereitstehen werden – bei weit mehr als 15 000 Klassenräumen. Landeselternvertreter Norman Heise verweist auf ein noch grundlegenderes Problem: Offenbar ist immer noch nicht sichergestellt, dass sich überhaupt überall die Fenster zum Durchlüften öffnen lassen. Laut Senat wird das weiterhin das Mittel der Wahl sein. Die Luftfilter sollen nur unterstützen. Der Bund zieht mit und unterstützt den Einbau von festen Luftfilteranlangen in Schulen und Kitas – allerdings ist das bis Schuljahresbeginn nicht mehr zu schaffen.
Und wer Hoffnung hat, dass sich das Ganze dann einfach nur verzögert, dem zieht ein Sprecher der Bildungsverwaltung auch noch diesen Zahn: „Es ist nicht das Ziel, einen Luftfilter in jedem Raum zu haben.“ Also nach den Ferien wieder: Fenster auf. Und da sich bis zum Winter wahrscheinlich weiter nichts ändert, freuen wir uns, dass uns die milliardenschwere Rettung der Lufthansa hoffentlich einen global erwärmten Winter schenkt.
Impfen bleibt unerlässlich – wird aber vernachlässigt
Es bleibt nicht viel Zeit bis zur kritischen Phase, in der die Urlauber und Schüler zurückkommen und die Temperaturen sinken. Die Herdenimmunität wird bis dahin nicht greifen. Wenn im aktuellen Tempo weitergeimpft wird, erreichen wir Mitte September das RKI-Impfziel von 80 Prozent und können nur hoffen, dass dies noch ausreichen wird, um die bis dahin dominante Deltavariante einzudämmen. Dafür müssen sich aber fast alle Erwachsenen impfen lassen, denn allein 10 Millionen Kinder in Deutschland sind unter 12, können also überhaupt nicht geimpft werden.
Kleiner Einschub: Der ZEIT-Online-Rechner für Herdenimmunität verrät, dass für das Worst-Case-Szenario (Deltapatienten stecken im Schnitt 6 Personen an, Impfungen schützen zu 80 Prozent) eine Impfquote von 105 Prozent nötig wäre.
Gefährdet werden die Impfziele nicht nur durch fehlende Termine – obwohl man sich zumindest in Berlin inzwischen schon sehr anstrengen muss, um einem freien Termin auszuweichen – sondern auch durch Erstgeimpfte, die nicht zu ihrem zweiten Termin gehen.
Die Senatsverwaltung in Berlin gibt an, dass Anfang Juli innerhalb von einer Woche 19 Prozent der Zweitimpftermine nicht wahrgenommen wurden, bei den Erstimpfungen sind die Zahlen ähnlich hoch. Laut Angaben der Zeit tröstet sich die Senatsverwaltung damit, dass die Menschen sich wahrscheinlich einfach woanders impfen lassen. Die Autorin Simone Gaul hat aber recherchiert, dass Hausarztpraxen keine reine Zweitimpfung anbieten. Die Zahlen des RKI erhärten den Verdacht: Im fraglichen Zeitraum wurden tatsächlich bundesweit 17 Prozent weniger Zweitimpfungen verabreicht als geplant.
Heißt: Die befürchtete Impfmüdigkeit ist da. Das schärfste Schwert im Kampf gegen die Deltavariante rostet vor sich hin. Und das, obwohl eine gesamteuropäische Studie gerade erst feststellte, dass in Deutschland die Impfbereitschaft und das Vertrauen in die Impfung als Ausweg aus der Pandemie sehr hoch sind.
Was ist mit Auffrischungsimpfungen, die eigentlich demnächst fällig werden?
Eine Studie aus den USA nährt gerade die Hoffnung, dass die Impfungen länger als bisher angenommen vor dem Coronavirus schützen können. Andere Experten wie Leif Erik Sander von der Berliner Charité sind der Meinung, dass es im Winterhalbjahr in Alten- und Pflegeheimen ohne Auffrischungen wieder zu Ausbrüchen kommen könnte. Die STIKO erwartet belastbare Daten zu dieser Frage bis August. Das Bundesgesundheitsministerium will erst einmal abwarten, bevor es in dieser Sache plant. Ach, wären wir doch immer so besonnen wie bei den Investitionen für unsere Alten und Kinder.
Wie soll es weitergehen?
Stattdessen sehnen wir den Schlussstrich herbei, der am besten ohne großes Zutun kommen und nichts kosten soll. Wie bei allen unangenehmen Dingen: Jetzt ist aber mal gut. Nur dass es nicht gut ist. Die Pandemie scheint wie eine endlose Geduldsprobe. Seit Monaten notiere ich in mein Tagebuch, dass es sich anfühlt, als würde ich auf irgendetwas warten. Ich stehe fest im Berufsleben und habe einen geregelten Alltag. Anders geht es diejenigen, die gerade um ihre Existenz bangen oder mit angezogener Handbremse in ihre Ausbildungen starten, für die die Welt nicht groß und weit ist, für all die Alten, die die vergangen Monate ihres Lebens allein verbringen, all die Männer und Frauen mit Depressionen, die auf sich selbst zurückgeworfen sind, denen Struktur und Ablenkung fehlt, für all die Alleinerziehenden, deren Hilfsnetzwerke zusammengebrochen sind, für all die Kinder und Jugendlichen, die keine Schutzräume außerhalb des Elternhauses mehr fanden, die nicht schwimmen lernen konnten und nun jede freie Minute dazu nutzen sollen, verpassten Stoff nachzuholen, statt erstmal wieder mit ihren Freunden zu spielen.
Spätestens hier muss jedem klar werden, dass das Impfen keine Privatentscheidung ist, wie es so oft heißt. Wir müssen diese Anstrengung gemeinsam tragen, wenn dieser Ausnahmezustand irgendwann wieder aufhören soll, wenn es keine Toten und keinen Lockdown mehr geben soll. Jeder, der sich gegen eine Impfung entscheidet, entscheidet nicht bloß für sich. Er entscheidet für uns alle, dass der nächste Winter möglicherweise so trostlos wird wie der vorige und dass Menschen sterben. Das ist keine Privatsache, das ist unsozial. Sich impfen zu lassen ist ein Akt der Solidarität, ein Dienst an der Gesellschaft, eine Bürgerpflicht.
Wir sind nach dem endlosen Coronawinter ausgehungert nach Erlebnissen, die unsere Akkus wieder aufladen. Natürlich sehnen wir uns nach Nähe, Fußball und Biergarten. Aber wir wissen schon jetzt, dass uns die Erinnerung an diesen Turbosommer nicht durch den nächsten Winter trägt, falls es wieder zum Lockdown kommt. Wir vergessen zu schnell. Wir vergessen auch jetzt die Vorsicht, vergessen, dass es noch nicht vorbei ist. Der Impfschutz soll am besten hundertprozentig sein. Alle wollen Biontech. Aber bei den kleinen, alltäglichen Sicherheitsregeln lassen viele wieder Fünfe gerade sein. Im Supermarkt werden die Abstände kleiner, die Masken hat man doch mal ein, zwei Tage hintereinander auf, man umarmt sich wieder zur Begrüßung, halb England hopst eng umschlungen und schreiend auf den Fußballtribünen.
Unsere Lage ist weder wie die in Indien noch wie die in England. Aber wie genau sie gerade ist, wissen wir auch nicht, denn die Gleichung hat zu viele Variablen, um sicher abzuschätzen, was passieren wird. Wir werden erst in der Rückschau begreifen, ob wir uns gerade übervorsichtig oder leichtsinnig verhalten. Ob die Politik versagt, uns bevormundet oder geschützt hat.
Das Ende der Pandemie wird aber nicht durch Abwarten, hastige Öffnungen oder sonstige Wahlgeschenke kommen, sondern nur, wenn es gelingt, den Wettlauf gegen die Deltavariante durch Vorsicht zu bremsen, durch Investitionen einzudämmen und durch zügiges Impfen zu gewinnen.
Jede Zweitimpfung und jedes bedachte Handeln kann Leben retten, auch wenn Corona im Moment im Biergarten ganz weit weg ist. Die Deltavariante wird kommen. Aber wir können gewinnen. Und dürfen den Rest der Welt nicht vergessen.