Verfällt Belarus in Chaos und Gewalt? Welche Rolle spielt Russland? Was macht Europa?
Verfällt Belarus in Chaos und Gewalt? Welche Rolle spielt Russland? Was macht Europa?
Seit den Präsidentschaftswahlen vor einer Woche befindet sich Belarus im Ausnahmezustand. Das verkündete Ergebnis, dem zufolge der Amtsinhaber Aleksander Lukaschenko die Wahl mit 80 Prozent für sich entscheiden konnte, während die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja auf lediglich knapp 10 Prozent gekommen sei, hat eine Massenmobilisierung der belarussischen Gesellschaft nach sich gezogen. War es im Vorfeld der Wahlen vor allem die jüngere Generation gewesen, bei der laut Umfragen des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) ein starker Verlust an Vertrauen in Lukaschenko und die staatlichen Sicherheitskräfte zu verzeichnen war, so formiert sich derzeit ein neuer gesellschaftlicher Konsens über Generationen, soziale Schichten und Regionen des Landes hinweg. Eine klare Forderung steht hinter diesem Konsens: der Rücktritt Lukaschenkos.
Bereits der Wahlkampf war vom wachsenden Unmut in der Bevölkerung geprägt. Die Kampagne der Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja, die antrat, weil ihr Mann als Kandidat nicht zugelassen und inhaftiert wurde, bündelte diese Stimmung. Statt eigene politische Ambitionen zu formulieren, versprach sie, innerhalb von sechs Monaten neue, faire Präsidentschaftswahlen zu organisieren.
Die Politik Lukaschenkos macht deutlich, wie groß die Distanz zwischen ihm und der Gesellschaft inzwischen geworden ist. Viele seiner Schritte verstärkten den Willen der Bevölkerung, sich ihm entgegenzustellen. Zuerst versuchte er, die Coronakrise zu ignorieren, und demonstrierte seinen mangelnden Respekt vor der eigenen Bevölkerung. Dann unterschätzte er die Symbolkraft, die von Tichanowskaja und ihren zwei Mitstreiterinnen ausging. Seine abwertenden Äußerungen über Frauen in der Politik wurden durch die sehr sichtbare Rolle von Frauen im Wahlkampf und bei den Protesten entkräftet. Die besonders drastische Wahlfälschung samt der dazu über die sozialen Medien verbreiteten Bilder sowie die zeitweilige Unterbrechung des Internets konnten die Opposition nur stärken.
Die Proteste sind an einem kritischen Punkt angelangt. Mit jedem Tag, an dem sie fortgesetzt werden und sich weiter ausdehnen, verringern sich die Chancen Lukaschenkos, mit Repressionen und Gewalt im Amt zu bleiben. Über das inzwischen wieder funktionierende Internet verbreiten sich die Nachrichten von Arbeitsniederlegungen in staatlichen Betrieben und Bilder von Sicherheitskräften, die sich öffentlich gegen die Gewalt stellen.
Ein autoritäres Regime bröckelt, wenn die Loyalität der Eliten in staatlichen Institutionen nicht mehr gewährleistet ist. Lukaschenko hat sich keinen Verhandlungsspielraum gelassen und setzt ausschließlich auf Repressionen.
Belarus ist wirtschaftlich von Russland abhängig. Dieses sowjetische Erbe hat der russische Präsident Wladimir Putin stets genutzt, um das Land auch politisch eng an sich zu binden. Trotz dieser Abhängigkeit hat sich Lukaschenko Putin wiederholt in den Weg gestellt – so hat er zum Beispiel die Annexion der Krim durch Russland nicht anerkannt und sich mit dem Minsker Abkommen als Friedensvermittler im Krieg in der Ostukraine inszeniert. Im Gegenzug lockerte die EU personenbezogene Sanktionen gegen Lukaschenko und andere Eliten des Landes.
Vor Ort ist die EU bisher wenig präsent – dies ist ein großer Unterschied zur Ukraine, wo sich die Maidan-Demonstrationen 2013 an der Nichtunterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens durch den damaligen ukrainischen Präsidenten entfachten. In Belarus sieht sich die EU mit dem geopolitischen Dilemma konfrontiert, dass westliche Sanktionen den wirtschaftlichen und politischen Einfluss Russlands untermauern. Derzeit kommt die Sorge über eine mögliche aktive Unterstützung der Repressionen durch Russland hinzu.
Die belarussische Gesellschaft fordert nun auch uns heraus. Viel zu wenig ist Belarus bisher in unserem Verständnis von Europa verankert – nun beginnt sich die geografische Nähe des Landes mit einer neuen Wahrnehmung gemeinsamer Werte zu verbinden. Das stellt auch die deutsche Regierung und die EU vor die Herausforderung, sich gegenüber Belarus neu zu positionieren. Die ersten offiziellen Stellungnahmen aus der EU waren zu zögerlich. Jetzt geht es um die interne und externe Glaubwürdigkeit demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien.
Die Rückkehr zu den alten Sanktionen ist dabei schon eine Herausforderung für die EU, da die weniger demokratisch gesonnenen Mitgliedsstaaten wie Ungarn diesem ihr Veto entgegensetzen können.
Darüber hinaus muss die EU sich nun aktiv daran beteiligen, auf ein Ende der Gewalt in Belarus hinzuwirken und dem neuen gesellschaftlichen Konsens einen politischen Weg zu bereiten. Eine Reaktion Russlands ist nicht auszuschließen, doch im Vergleich zur Ukraine 2014 gestaltet sich auch für Russland die Lage anders: Die starke Verbundenheit mit Russland wurde bisher von der belarussischen Gesellschaft nicht in Frage gestellt. Ein aktives Eingreifen auf der Seite Lukaschenkos birgt nun das Risiko, Russland in den Augen der Bevölkerung zu diskreditieren. Aus Russland werden die Entwicklungen in Belarus genau verfolgt – nicht zuletzt, weil die Frage der Putin-Nachfolge 2024 auch nach der Verfassungsreform nicht abschließend beantwortet ist und die Legitimation des eigenen Systems zunehmend unter Druck gerät, wie die jüngsten Proteste in Chabarowsk zeigten.
Autoritäre Systeme können lange Zeit stabil wirken und dann doch plötzlich in Frage gestellt werden. Eine Woche ist nicht viel Zeit – doch für Belarus könnte sie das Ende einer politischen Ära bedeuten.