Aus dem Report der Magd

In real life - die retrotopischen Staaten von Amerika

24
07
PICTURE ALLIANCE/ASSOCIATED PRESS | ERIN SCHAFF
Höchstes Gericht, auf Erden. Von links oben: Brett Kavanaugh, Elena Kagan, Neil Gorsuch und Amy Coney Barrett. Untere Reihe: Samuel Alito, Clarence Thomas, John Roberts, Stephen Breyer und Sonia Sotomayor.
24
07
PICTURE ALLIANCE/ASSOCIATED PRESS | ERIN SCHAFF
Höchstes Gericht, auf Erden. Von links oben: Brett Kavanaugh, Elena Kagan, Neil Gorsuch und Amy Coney Barrett. Untere Reihe: Samuel Alito, Clarence Thomas, John Roberts, Stephen Breyer und Sonia Sotomayor.

Aus dem Report der Magd

In real life - die retrotopischen Staaten von Amerika

Die Ereignisse und Entwicklungen der vergangenen Wochen haben eines gezeigt: Auch wenn es mittlerweile zum Klischee geronnen sein mag, von „den Gespaltenen“ statt von „den Vereinigten Staaten von Amerika“ zu sprechen, weniger wahr ist es deshalb nicht. Sowohl die Aufarbeitung der Ereignisse am 6. Januar 2021, als Trump-Anhänger das Kapitol stürmten und die Zertifizierung der Wahl Joe Bidens zum neuen Präsidenten verhindern wollten, als auch die jüngsten Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes zu hochumstrittenen gesellschaftlichen Themen belegen dies eindrücklich: Das Urteil in New York State Rifle & Pistol Association, Inc. v. Bruen erlaubt das verdeckte Tragen von Waffen; der Urteilsspruch von West Virginia v. Environmental Protection Agency schränkt staatliche Maßnahmen zum Umweltschutz deutlich ein; Kennedy v. Bremerton School District gestattet das Schulgebet; und Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization hebt das seit dem Grundsatzurteil Roe v. Wade im Jahr 1973 geltende Recht auf Abtreibung auf.

Den Entscheidungsbegründungen des Supreme Court gemein ist nicht nur die Interpretationsmaxime des „original intent“ (die enge, buchstäbliche Auslegung des Verfassungstextes), der die Mehrheit der derzeit amtierenden Justices anhängen (drei von ihnen hatte Donald Trump während seiner Amtszeit als Präsident nominiert und damit neue Mehrheitsverhältnisse zugunsten einer anti-liberalen Rechtsauslegung geschaffen), sie ergeben in der Summe auch ein stimmiges Gesamtbild – das eines durch und durch retrotopischen Gesellschaftsentwurfs.

Der Begriff der Retrotopie als rückwärtsgewandte Utopievorstellung stammt vom Soziologen Zygmunt Bauman und lässt sich als treffende Beschreibung auf die Linie der neuerlichen Urteile anwenden. Die Retrotopie des Supreme Courts wird vorstellbar als nostalgisch-verbrämter, gottgefälliger Siedlerkolonialismus und evoziert das Leben weißer Männer an der frontier, die mit Gewehr und Gebet bewaffnet den schier unbegrenzten Ressourcen des Landes nachjagen, während die Frauen mit den (vielen) Kindern in der Blockhütte harren. Auch der selbst nicht mehr ganz so junge amtierende US-Präsident Joe Biden sah sich in Bezug auf die „konservativen“ Richter des Obersten Gerichtshofes zu der Frage veranlasst: „In welchem Jahrhundert leben die eigentlich?“

Genau diese Frage – allerdings in Bezug auf die Vereinigten Staaten insgesamt – beantwortete kürzlich der afroamerikanische Intellektuelle Ibram X. Kendi mit einem pointierten Vergleich: Das Lebensgefühl im Land sei derzeit mit den 1850er-Jahren vergleichbar, einer Dekade, in der unvereinbare Gegensätze in den USA zutage traten, die letztlich in einen Bürgerkrieg mündeten. Damals konnten die Differenzen geografisch verortet werden – in Nord und Süd; heute sind es die sogenannten blauen, demokratisch geführten gegen die roten, republikanisch geführten Bundesstaaten. Eine Nord-Süd-Achse existiert immer noch, ebenso ein Stadt-Land-Gefälle. Die Republikanische Partei habe sich, so Kendi, radikalisiert und sei nun eine Partei, die weißen Suprematie-Vorstellungen anhänge und für deren Durchsetzung ihre ganze institutionelle Macht verfügbar mache; dagegen stünde allerdings auch ein Machtzuwachs bei neuen, starken Koalitionen gegen Rassismus und Misogynie. Eine aktuelle Pew-Umfrage zeigt beispielsweise, dass die Mehrheit der Amerikanerinnen (66 zu 32 Prozent) und Amerikaner (57 zu 42 Prozent) für die Möglichkeit legaler Schwangerschaftsabbrüche ist.

Wie weit trägt dieser historische Vergleich, der kaum Anlass zu Optimismus gibt? Teresa Fedor, eine Senatorin im Senat des Bundesstaates Ohio (entspräche in Deutschland einer Landtagsabgeordneten), befürchtet, dass nach der Aufhebung des Rechts auf Abtreibung eine Art underground railroad (so ehemals der Name einer Hilfsorganisation für versklavte schwarze Menschen auf der Flucht) für ungewollt schwangere Frauen im Land nötig werde, damit diese aus Staaten, in denen Abtreibung nun verboten ist, ausreisen können in solche, die den Eingriff legal durchführen lassen. Die Analogie mag in vielerlei Hinsicht schlecht gewählt sein, sie zeigt aber das ganze dystopische Potenzial der neuerlichen Gerichtsentscheidung. Die viel zitierte Margaret Atwood, Autorin von The Handmaid’s Tale (Der Report der Magd) und The Testaments, äußerte sich ebenfalls dazu: Sie habe den misogynen Staat Gilead in ihren Romanen erfunden, der US-Supreme Court habe ihn nun verwirklicht. Auch in ihrem Text gibt es eine underground femaleroad für Frauen, die aus Gilead, einem unterdrückerischen Gottesstaat auf dem Gebiet der heutigen USA, nach Kanada fliehen – alles rein fiktiv: von der retrotopischen Fantasie zur dystopischen Wirklichkeit?

Kritik am Obersten Gerichtshof wurde von vielen Seiten geäußert – an dessen Entscheidungen ebenso wie an seiner Machtfülle. Letzteres, die „judicial supremacy“, prangern Nikolas Bowie und Daphna Renan als demokratiefeindlich und ganz und gar nicht im Sinne des von konservativer Seite vielbeschworenen „original intent“ an: „Anstatt zuzulassen, dass eine Handvoll von uns die Bedeutung der Verfassung jedes Jahr im Juni in einem mystischen Ritual definiert, sollte der Rest von uns sie durch die harte, schmutzige Arbeit der amerikanischen Politik das ganze Jahr über definieren.“

Apropos harte, schmutzige politische Arbeit im Hier und Jetzt: Durchaus real, wenngleich ebenfalls dystopisch anmutend, waren die Ereignisse am 6. Januar 2021, die derzeit vom Select Committee to Investigate the January 6th Attack on the United States Capitol aufgearbeitet werden. Die Untersuchung zielt auf die Rekonstruktion der Ereignisse sowie der Kommunikation unter den Beteiligten, und zu diesem Zweck erfolgt die Anhörung von Zeugen, Polizeibeamten, ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Trump-Regierung, Weggefährten und Beratern des ehemaligen Präsidenten. Zeugen und Zeuginnen können sich über eine anonyme Hotline melden, und viele Menschen haben davon bereits Gebrauch gemacht.

Auch wenn Trump, was viele erwarten, seine erneute Präsidentschafts­kandidatur für 2024 bald erklären könnte, wäre er damit nicht immun gegen eine Strafverfolgung. Die Hearings, die live übertragen werden, sind einigermaßen spektakulär und übertreffen die Erwartung vieler an die überparteiliche Kommissionsarbeit. Sie ändern allerdings bisher wenig an den eingefleischten Überzeugungen der Amerikanerinnen und Amerikaner. Die Mehrheit derer, die den Geschehnissen folgen, sieht sich in ihrer jeweiligen Trump-kritischen oder -befürwortenden Haltung bestätigt. Und so wird um die Definition von Amerika als Utopie oder Gegenutopie, als (partiell) verwirklichte Retrotopie oder gelebte Dystopie auch in den kommenden Wochen und Monaten unerbittlich gestritten werden – mitsamt den damit einhergehenden kognitiven und affektiven Dissonanzen.

Weitere Artikel dieser Ausgabe