Die jüngsten Ereignisse in den Vereinigten Staaten zeigen einmal mehr: Der Begriff „gespaltenes Land“ ist weit mehr als ein Klischee. Der Sturm auf das Kapitol im Januar 2021 und die aktuellen Entscheidungen des Supreme Court verdeutlichen, wie tief die gesellschaftlichen Gräben verlaufen.
Ob beim Waffenrecht, beim Umweltschutz, beim Schulgebet oder bei der Frage der Abtreibung – die Urteile des Obersten Gerichtshofs setzen auf eine konservative, rückwärtsgewandte Linie.
Gerichtsurteile mit Signalwirkung
Die Mehrheit im Supreme Court orientiert sich an einer strengen Auslegung der Verfassung. Drei der aktuellen Richter wurden unter Donald Trump ernannt. Die Folgen sind einschneidend: Das Tragen versteckter Waffen wird erleichtert, staatliche Klimaschutzmaßnahmen beschnitten, Schulgebete erlaubt und das seit 1973 geltende Recht auf Abtreibung aufgehoben. Diese Entscheidungen zeichnen das Bild eines konservativen Gegenentwurfs zur modernen Gesellschaft – einer sogenannten „Retrotopie“.
Leben wie im 19. Jahrhundert?
Der Begriff Retrotopie stammt vom Soziologen Zygmunt Bauman. Er beschreibt eine Utopie, die in der Vergangenheit liegt – eine Idealvorstellung, die es so nie gegeben hat. In den USA nimmt sie die Form eines christlich geprägten, patriarchalen Lebensstils an: Weiße Männer, bewaffnet mit Gewehr und Bibel, dominieren die Szene. Frauen bleiben im Hintergrund. Selbst Präsident Joe Biden fragte spöttisch, in welchem Jahrhundert der Supreme Court eigentlich lebt.
Die Vereinigten Staaten auf gefährlichem Kurs?
Der Historiker Ibram X. Kendi vergleicht die aktuelle Lage mit den 1850er-Jahren – der Zeit kurz vor dem Bürgerkrieg. Auch damals prallten unvereinbare Vorstellungen aufeinander. Heute sind es weniger Nord und Süd als vielmehr urbane, demokratisch geführte Bundesstaaten gegen ländlich geprägte republikanische Regionen. Die Republikanische Partei hat sich laut Kendi radikalisiert. Gleichzeitig gewinnen Bündnisse gegen Rassismus und Diskriminierung an Stärke. So spricht sich eine deutliche Mehrheit der US-Bürgerinnen und -Bürger für das Recht auf Abtreibung aus.
Eine neue „Underground Railroad“?
Die demokratische Politikerin Teresa Fedor aus Ohio sieht düstere Zeiten auf die USA zukommen. Sie befürchtet, dass Frauen aus Staaten mit Abtreibungsverbot künftig heimlich in andere Bundesstaaten reisen müssen – so wie einst versklavte Menschen über geheime Fluchtrouten flohen. Die Schriftstellerin Margaret Atwood sieht ihre dystopische Vision aus „The Handmaid’s Tale“ bereits Realität werden: Ein Gottesstaat, in dem Frauen ihrer Rechte beraubt sind. Was einst Fiktion war, scheint nun erschreckend nah.
Kritik am Supreme Court wird lauter
Nicht nur die Urteile, auch die Machtfülle des Gerichts selbst wird zunehmend infrage gestellt. Die Juristen Nikolas Bowie und Daphna Renan fordern, die Deutungshoheit nicht einer kleinen Elite zu überlassen. Die Verfassung müsse demokratisch gelebt und politisch ausgehandelt werden – nicht einmal jährlich im Juni durch ein paar Richter definiert werden.
Aufarbeitung des 6. Januar 2021
Parallel dazu untersucht ein parlamentarischer Ausschuss die Geschehnisse rund um den Kapitol-Sturm. Ziel ist es, das Netzwerk hinter dem Angriff offenzulegen. Die Live-Übertragungen der Anhörungen zeigen erschreckende Einblicke in das Innenleben der Trump-Regierung. Trotz der Enthüllungen bleiben die Reaktionen jedoch gespalten: Wer Trump ablehnt, fühlt sich bestätigt – wer ihn unterstützt, bleibt unbeeindruckt.
Was bedeutet das alles für die Zukunft?
Ob die USA sich in Richtung einer offenen Demokratie oder einer autoritären Retrotopie entwickeln, ist offen. Sicher ist nur: Der Streit um das Selbstbild des Landes wird weitergehen. Inmitten von Widersprüchen, Emotionen und tiefen Überzeugungen geht es nicht nur um politische Weichenstellungen – sondern um die Seele Amerikas.