Anstelle einer liberalen Weltordnung ist eine Weltunordnung entstanden. Der Westen hat selbst dazu beigetragen
Anstelle einer liberalen Weltordnung ist eine Weltunordnung entstanden. Der Westen hat selbst dazu beigetragen
Kaum hatte der Krieg in der Ukraine begonnen, meldete sich Francis Fukuyama mit einer selbstbewussten Einschätzung zu Wort. Weil der russische Vormarsch langsamer vorankam als erwartet, erklärte er den Angriff und Wladimir Putins gesamte Präsidentschaft kurzerhand für gescheitert. Laut Fukuyama beruhte Putins Attraktivität auf Stärke, und sobald er diese nicht mehr demonstrieren könne, stehe sein gesamtes „Projekt“ zur Disposition. Nicht nur Putin werde fallen, so Fukuyama, sondern mit ihm das gesamte Netzwerk rechter Populisten, die den russischen Präsidenten zu ihrer Leitfigur erkoren hatten. Mit seinem Angriff habe Putin genau das Gegenteil dessen erreicht, was er beabsichtigt hatte: Nach Jahren der Spaltung sei der Westen geeint, und sogar das traditionell zurückhaltende Deutschland habe sich dazu durchgerungen, dem Aggressor entgegenzutreten. Wenn auch tragisch, so stehe am Ende des Konflikts eine „Wiedergeburt der Freiheit“.
Was war von dieser Prognose zu halten? Wie schon nach dem Ende des Kalten Krieges („Das Ende der Geschichte?“) und dem Arabischen Frühling („Kommt China als Nächstes?“) hatte Fukuyama einen hochgradig komplexen Konflikt auf den Widerstreit zwischen liberaler Moderne und ihren Feinden reduziert und damit alle anderen Triebkräfte – wie etwa Nationalismus, Religion, ethnische Identität sowie das Streben nach Macht und materiellem Vorteil – ausgeblendet. Die hieraus resultierenden Voraussagen waren stets optimistisch, aber fast immer falsch. Osteuropa wurde zwar demokratisch, aber die meisten Nachfolgestaaten der Sowjetunion, inklusive Russland, kehrten nach ein oder zwei freien Wahlen zu autokratischen Herrschaftsformen zurück. Der Versuch, den Nahen Osten mit militärischer Gewalt zu demokratisieren, scheiterte auf ganzer Linie. Und der Arabische Frühling führte nicht zu mehr Demokratie, sondern zu einem Revival von Diktatoren und Dschihadisten. Auch China wurde trotz Handel und Dialog nicht freier und demokratischer, sondern festigte sein autoritäres Herrschaftsmodell. Und innerhalb des Westens war es zu einer Erosion demokratischer Werte und dem Aufstieg reaktionärer, antiliberaler Kräfte gekommen, die nicht selten – und nicht zufällig – mit Putins Russland sympathisierten. Der „Demokratieindex“ des britischen Magazins The Economist verzeichnete im Jahr 2021 den schlechtesten Wert seit fünfzehn Jahren: Nur 6,4 Prozent der Weltbevölkerung lebten in „vollständigen Demokratien“, während sich über die Hälfte – 54,3 Prozent – in Ländern befanden, die als „autoritär“ oder „hybrid“ klassifiziert wurden.
Ganz unabhängig vom Ausgang des Krieges in der Ukraine gibt es also keinen Anlass, von einer baldigen „Wiedergeburt der Freiheit“ zu träumen. Und überhaupt wäre hier Vorsicht geboten, trugen doch die naiven, oftmals völlig unrealistischen Ideen westlicher Politikeliten in den letzten drei Jahrzehnten ganz erheblich dazu bei, dass die quasi-hegemoniale Stellung, die der Westen nach Ende des Kalten Krieges innehatte, Schritt für Schritt verloren ging und dass antiliberale Kräfte – sowohl innerhalb als auch außerhalb des Westens – immer stärker wurden. Die Schlussfolgerung ist, dass ein „Weiter so“ unter diesen Bedingungen gefährlich, wenn nicht sogar fatal wäre. Wenn der Westen sich und seine Errungenschaften erhalten möchte, muss er sich dringend neu erfinden, und zwar als nachhaltige Moderne.
Aus heutiger Sicht ist kaum mehr nachzuvollziehen, wie optimistisch westliche Eliten noch vor einer Generation die Zukunft ihres Politik- und Gesellschaftsmodells einschätzten. Fast niemand konnte sich vorstellen, dass ein System, das konsequent auf Freiheit und menschliche Selbstverwirklichung setzte, jemals unter existenziellen Druck geraten würde. Hatte der Westen nicht gerade den mächtigsten, gefährlichsten und ideologisch entschlossensten Gegner aller Zeiten – die Sowjetunion – besiegt? Verglichen damit waren alle anderen Bedrohungen unbedeutend, und es gab keinen Grund, sich ernsthaft über die Vormachtstellung des Westens zu sorgen. Noch im Jahr 1997 machte sich der heutige US-Präsident Biden über die Idee lustig, dass sich Russland vom Westen ab- und einem autokratischen China zuwenden könnte: „Viel Glück damit“, so die Antwort auf die entsprechende Frage eines russischen Journalisten.
Die Terroranschläge vom 11. September 2001 waren ein Weckruf, aber statt die eigenen, ideologisch begründeten Annahmen auf den Prüfstand zu stellen, verdoppelte der Westen den Eifer, mit dem er diese zu verbreiten versuchte. Amerika reagierte mit einem „Krieg gegen den Terror“, der nicht nur das Problem nicht löste, sondern den Westen in einen zwanzigjährigen Konflikt im Nahen Osten hineinzog und die Glaubwürdigkeit westlicher Ideen wie Demokratie und Freiheit in der ganzen Welt infrage stellte. Hinzu kam ein Prozess der inneren Erosion, der – beginnend mit der globalen Finanzkrise – die Fragilität des westlichen Wirtschafts- und Finanzmodells offenbarte und politische Bruchlinien innerhalb westlicher Gesellschaften vertiefte. Aus Fukuyamas Sicht waren dies „Auswüchse“, die nichts mit dem „guten“ Liberalismus zu tun hatten, den er im Sinn hatte. In Wirklichkeit aber waren diese Entwicklungen eine direkte Konsequenz des übertriebenen Glaubens an die Überlegenheit des eigenen Systems, die er mit seiner These vom „Ende der Geschichte“ selbst befeuert hatte.
Bereits im Jahr 2010 war die Krise der liberalen Moderne offensichtlich, doch die westliche Reaktion bestand nicht in einem entschiedenen Gegensteuern, sondern in einer langen Phase des Zweifels und der Verunsicherung, in der besonders Amerika kein klares Verständnis mehr davon zu haben schien, was die Vormachtstellung des Westens bedeutete und wie es seine Führungsrolle ausüben sollte. Am deutlichsten wurde dies während der Volksrevolutionen des Arabischen Frühlings. Der Westen begrüßte zwar den Wunsch der arabischen Bevölkerungen nach Modernisierung und ermutigte sie in ihrem Streben nach Freiheit, aber seine Unterstützung war so inkonsequent und ängstlich, dass er die darauffolgenden Konflikte durch sein Eingreifen verschlimmerte und die Gegner der liberalen Moderne stärkte. Zu den Nutznießern gehörte nicht nur der Islamische Staat, sondern auch Wladimir Putin, der den Westen überall und auf immer dreistere Weise herausforderte. Und selbst innerhalb des Westens kam es zu einem Erosionsprozess, ganz besonders in Europa, wo mit der Währungsunion und Schengen die zwei ehrgeizigsten liberalen Einigungsprojekte nahezu scheiterten und die liberal-moderne Idee von Europa massiven Schaden nahm.
Ab Mitte der 2010er-Jahre war der Backlash in vollem Gange. Die Bedrohungen für die liberale Moderne kamen dabei aus drei Richtungen. Die erste war die Bedrohung von außen, wobei hauptsächlich China zu nennen ist. Natürlich war Russland ebenfalls eine Gefahr, doch ein Land, das zwar Atomwaffen besaß, aber weniger Einwohner hatte als Bangladesch und dessen stagnierende Volkswirtschaft kleiner war als die von Spanien, konnte zwar geopolitische Unruhe stiften, aber taugte nicht als Systemkonkurrent. China war das genaue Gegenteil: das bevölkerungsreichste Land der Welt und die am stärksten wachsende Volkswirtschaft mit einem autoritären Gesellschaftssystem, das mit brutalen Methoden für Ruhe und „Stabilität“ im Innern sorgte, und einem Entwicklungsmodell, das dem Westen in vielen Teilen der Welt Konkurrenz machte, ohne die direkte Konfrontation mit ihm zu suchen. Wenn auch kulturell und geografisch weiter entfernt als Russland, so war es die „autoritäre Moderne“ Chinas, mit der sich der Westen im 21. Jahrhundert in einem Systemwettbewerb befand – ganz besonders in Afrika und Asien, den dynamischsten und wirtschaftlich am stärksten wachsenden Kontinenten.
Die zweite Bedrohung, jene im Innern, bestand in der immer tiefer werdenden Spaltung und Polarisierung westlicher Gesellschaften. In vielen Ländern bildeten sich lautstarke Minderheiten, die vom politischen und gesellschaftlichen Wandel verunsichert waren und dem liberalen Gesellschaftsmodell aktiv entgegentraten. Der Austritt Großbritanniens aus der EU und der Wahlsieg von Donald Trump bewiesen, dass solche Minderheiten unter bestimmten Bedingungen zu Mehrheiten werden konnten und alle Annahmen darüber, was eine liberale Demokratie ausmachte, plötzlich zur Disposition standen. Hinzu kam eine aktivistische Linke, die Forderungen nach Gleichheit auf die Spitze trieb und den Radikalisierungsprozess auf der rechten Seite des politischen Spektrums mit ihrem eigenen Radikalismus weiter beförderte. Selbst die liberale New York Times beklagte, dass politisch Linke und Rechte in einer „destruktiven Spirale“ gefangen seien, die die öffentliche Auseinandersetzung zu zerstören drohe.
Kurzum: Die Fliehkräfte wurden auch innerhalb westlicher Gesellschaften immer größer, und selbst wenn diese nicht so schwach und gespalten waren, wie etwa von Putin erhofft, so etablierte sich mit der „reaktionären Moderne“ ein Gegenentwurf, der die liberale Moderne verwundbar machte. Es war vor allem in dieser Hinsicht, dass Russland zur Gefahr für den Westen wurde, denn nicht nur verkörperte Putin dieselben antiliberalen, ultranationalistischen Ideen wie Trump, Orbán und die rechtspopulistischen Parteien, sondern er förderte auch aktiv deren Verbreitung.
Die dritte Bedrohung ging über die politischen Verhältnisse im Inneren wie im Äußeren hinaus. Der menschengemachte Klimawandel hat zwar im westlichen Wirtschafts- und Wachstumsmodell seinen Ursprung, gefährdet aber nun den gesamten Planeten. Auch wenn dies bereits in den achtziger Jahren bekannt war, wurden die Folgen erst eine Generation später so konkret, dass sofortiges Handeln unausweichlich erschien. Doch die westlichen Staaten konnten ihre Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen nicht schnell genug reduzieren, und die neu industrialisierten Länder in Asien wollten dies nicht. Heute besteht ohne einen überraschenden technologischen Durchbruch kaum mehr eine Aussicht darauf, dass die Pariser Klimaziele erreicht werden können, und allen Gesellschaften stehen somit dramatische soziale, wirtschaftliche und politische Veränderungen bevor. Mehr noch als die Bedrohungen im Innern und von außen ist dies eine Gefahr, die nicht nur die Vormachtstellung, sondern die Existenz des Westens infrage stellt.