Ausbruch aus einem selbstreferentiellen Gespräch

Warum die Ukraine in der deutschen Debatte nicht weiter ausgeblendet werden darf. Ein Einwurf

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ANNETTE RIEDL
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ANNETTE RIEDL

Ausbruch aus einem selbstreferentiellen Gespräch

Warum die Ukraine in der deutschen Debatte nicht weiter ausgeblendet werden darf. Ein Einwurf

Länger als zwei Monate dauert Russlands Großoffensive gegen die Ukraine inzwischen an und ein paradoxer Trend kennzeichnet die deutsche öffentliche Debatte: Inmitten des Krieges geht es immer mehr um Deutschland und immer weniger um die Ukraine. Der Diskurs kreist um sich selbst: Kann Deutschland dieses oder jenes Energieembargo verkraften? Soll Deutschland „schwere“ Waffen liefern und wenn ja, welche tauglichen Waffen können überhaupt geliefert beziehungsweise entbehrt werden? Welche deutschen Politiker fahren wann in die Ukraine? Die Liste der (zu) oft gestellten Fragen ist lang, hat viel mit der zögerlichen Kommunikation der Regierung zu tun und bestätigt vor allem eines: Die Ukraine kam über viele Jahre nur punktuell im Bewusstsein von Politik und Öffentlichkeit vor und ist dort auch jetzt trotz der täglichen Bilderflut über das Kriegsgeschehen noch immer nicht angekommen.

Die Ukraine stand jenseits der großen Momente wie den Euromaidan-Protesten 2013-14, der Krim-Annexion 2014 und dem seit 2014 andauernden, von Russland mit Hilfe lokaler Separatisten geführten Krieg im Donbass im Schatten einer weit verbreiteten Russland-Fokussierung. In diesen Tagen wird zu Recht viel über die Fehleinschätzungen in der deutschen Russlandpolitik der vergangenen Jahre gesprochen – insbesondere über das Vertrauen in eine große Energieabhängigkeit. Der Bruch mit diesen verfehlten Annahmen bleibt jedoch lückenhaft, wenn nicht das Selbstverständnis der Ukraine, ihre Entwicklung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und ihr Staats- und Nationsbildungsprozess in der deutschen und gesamteuropäischen Wahrnehmung in den Mittelpunkt rücken.

Vielerorts wurde mit Überraschung festgestellt, dass die Ukraine sich nicht binnen weniger Tage einem militärisch überlegenen Russland ergeben hat und stattdessen geschlossen und erfolgreich militärischen und zivilen Widerstand leistet. Die vielbeschworene Erkenntnis, dass sich momentan vor unseren Augen die politische Nation der Ukraine konstituiere, verkennt die Situation vor Ort. Dieser Prozess dauert mindestens seit der staatlichen Unabhängigkeit 1991 an. Historische Vorläufer kurzlebiger ukrainischer Unabhängigkeit und eine seit dem 19. Jahrhundert bestehende Nationalbewegung (die stark durch die Universität Charkiw im Osten des Landes geprägt wurde) sind wichtige Bezugspunkte. In den Grenzen von 1991 wurde die Ukraine zum ersten Mal unabhängig – dies jedoch mit Nachdruck und untermauert durch ein Referendum, bei dem sich am 1. Dezember 1991 eine Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer in all ihren Regionen für diese Unabhängigkeit aussprach. Selbst auf der Krim bekannte sich eine Mehrheit von 54 Prozent der Abstimmenden für die Unabhängigkeit, in anderen Landesteilen wesentlich mehr. Dieses Votum war der Ausdruck politischer und wirtschaftlicher Erwartungen und garantierte dem Staat eine wichtige Legitimation „von unten“.

Die Ukraine ist ein von regionaler, ethnischer und linguistischer Vielfalt gekennzeichnetes Land. Diese Vielfalt ist von Anfang an von den meisten ausländischen Beobachterinnen missverstanden worden – und auch inmitten des Krieges halten sich diese Ansichten erstaunlich beharrlich. In der Tat gibt es ethnische Russen in der Ukraine, und im Süden und Osten des Landes sowie in der Hauptstadt Kiew wird auch Russisch gesprochen. Aber gemischte ethnische Hintergründe und verschiedene Ausprägungen von gelebter Bilingualität sind seit langem Merkmale des Alltags in der Ukraine. Diese Unterschiede sind längst nicht so starr und konfliktbehaftet, wie von außen bis heute oftmals angenommen. Ebenso wenig lassen sie sich auf außenpolitische Orientierungen übertragen. Ethnische Russinnen oder Russisch sprechende ukrainische Staatsbürger orientieren sich nicht zwangsläufig gen Russland und auch die Bezeichnung „pro-russisch“ für die bisher dominanten Parteien in den südöstlichen Regionen greift zu kurz. Momentan befinden sich diese Parteien darüber hinaus in einem Auflösungsprozess, sodass sich die politische Landschaft nach dem Krieg wird neu definieren müssen. Auch persönliche Identitätskategorien bleiben fluide. Zu erwarten ist, dass die Zahl derer, die Ukrainisch als ihre Muttersprache – eine symbolische Identitätskategorie –benennen, selbst wenn sie im alltäglichen Leben auch oder überwiegend Russisch sprechen, weiter ansteigen und die Selbstklassifikation als „ethnischer Russe“ weiter abnehmen wird. Identitäten bleiben flexibel und können sich langsam über einen langen Zeitraum oder rasch in Reaktion auf Krisen verändern.

Das Ausmaß des ukrainischen Widerstands gegen die russische Besatzung erklärt sich auch aus den zyklischen Massenmobilisierungen heraus, die die Ukraine seit den 1990er-Jahren erlebt hat: Die Orangene Revolution 2004 und der Euromaidan waren die größten unter ihnen. Wiederholt protestierte ein Querschnitt der Gesellschaft gegen Korruption, Wahlmanipulation und die Willkür semiautoritärer Präsidenten und für Demokratie und westliche Lebensstandards. Die Massenmobilisierungen wurden bewusst als inklusive Bewegungen definiert. Diese Mobilisierungserfahrung erklärt die in sozialwissenschaftlichen Analysen in den vergangenen Jahren dokumentierte weiterhin hohe Protestbereitschaft in der Ukraine, die sich nun unter veränderten Vorzeichen als Widerstand manifestiert. Mit wiederholter Massenmobilisierung ging eine wachsende Identifizierung mit dem Begriff der ukrainischen Staatsbürgerschaft einher. Wie zahlreiche Meinungsumfragen zeigen, ist dieses Selbstverständnis, ukrainischer Staatsbürger zu sein, seit 1991 eine wichtige und spätestens seit der Krim-Annexion und dem Krieg im Donbass die vorherrschende Identitätskategorie in der Gesellschaft.

Der Krieg zeigt uns die politische Nation der Ukraine in Aktion – nicht aber ihre Geburt. Die deutsche und EU-weite Politik sind in Zugzwang geraten und müssen sich dieser konkreten Herausforderung stellen, statt sich in Debatten über sich selbst zu verlieren.

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