Binging Berlin

„Unorthodox“ ist für zwei Golden Globes nominiert – und nicht die einzige Serie aus der deutschen Hauptstadt, die international hoch im Kurs steht

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NETFLIX-COURTESY EVERETT COLLECTION
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Binging Berlin

„Unorthodox“ ist für zwei Golden Globes nominiert – und nicht die einzige Serie aus der deutschen Hauptstadt, die international hoch im Kurs steht

Von Gisela Dachs, Benjamin Nickl und Anne Beier


Im Coronajahr gilt es, weltweit den Körper zu schützen, doch reicht das nicht für den Menschen. Wer die eine Stadt verlässt, braucht eine andere. Immer öfter auch Berlin.

Die Pandemie hat uns aus urbanem Gedränge in die Wohnzimmer verbannt. Für viele wartet dann aber zu Hause auf dem Bildschirm ebenjene Stadt, deren Straßen im Alltag zu Quarantänezonen mutiert sind. Das Erleben findet via globaler Streaming-Anbieter wie Netflix oder Amazon Prime statt. Das Angebot ist reichlich. Die Fernsehserien spielen in den dunklen Seitengassen von New York oder haben als Kulisse japanische Teehäuser in Tokios alten Außenbezirken; sie zeigen uns die schönsten Seiten von Paris, einschließlich Modeschauen und verträumter Cafés neben dem Eiffelturm. Und auch Berlin, die kalte Winterstadt an der Spree, kann da mithalten mit der weltläufigen Konkurrenz. Der Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor, auf dem die berühmte Flaniermeile Unter den Linden endet, erscheint gleich bei einigen Produktionen schon im Vorspann. Bilder von Berlin sind immer schon um die Welt gegangen. Das internationale Publikum kennt die Stadt aus großen Filmproduktionen. Hollywoods Berlin war unumstritten prägend. Doch auch das deutsche Berlin, in Filmen aus West und Ost, lieferte eine nachhaltige historische Vorstellung von Deutschland, von der Weimarer Republik und den vermeintlich goldenen 1920er-Jahren bis zum Kalten Krieg samt Mauer. Nach der Wende erreichte das wiedervereinigte Berlin eine ausländische Zuschauerschaft mit einigen wenigen künstlerisch ambitionierten Produktionen wie „Der Himmel über Berlin“ (1987), „Lola rennt“ (1998) oder „Victoria“ (2015).

Im Fernsehen hatten die Berlinbilder weniger Erfolg. Mit dem kleinen Schirm, so schien es, verschwand der große Anreiz Berlins für die Welt – die Medienmoderne der Stadtserien im TV war Amerikanisch, sah aus wie Dallas, New York, Los Angeles, San Francisco. Englisch war in, Deutsch (sowieso) out. Der „Tatort“, so erfolgreich er in Deutschland auch ist, war nicht exportierbar. Dafür galt er immer schon als zu spezifisch, zu national, zu wenig kosmopolitisch. Zu tun hatte diese Entwicklung vor allem auch mit internationalen Produktionsbudgets, mit denen man nicht mithalten konnte. Im Unterschied zum deutschen Fernsehen wurde der amerikanische Rundfunk nie von Steuergeldern getragen. Hinzu kam die hausgemachte Unlust auf Serien aus dem eigenen Stadterleben, das oft die Idee von Deutschtümelei nicht abschütteln konnte, vor allem bei jüngeren Generationen.

Wenn Berlin also draußen in der Welt im Fernsehen auftauchte, dann oft als nachgebauter Studiodrehort in den USA, belebt mit nichtdeutschen Schauspielerinnen und Schauspielern und deren mitunter fehlendem Sprachvermögen. Erkennbar deutsch war hier wenig, weder die Berliner Schauplätze noch die Geschichten, die dort spielten. Das imaginierte Berlin überholte jeglichen Realitätsanspruch.

Das verändert sich gerade. Nicht nur ist Berlin zu einem hippen Sehnsuchtsort für jüngere Generationen aus aller Welt geworden, auch hat sein virtueller Markenwert zugenommen. Heute, man schaue und staune, sind es immer mehr deutschsprachige Produktionen mit globalem Anspruch, die international konsumiert werden. Die meisten von ihnen spielen in der deutschen Hauptstadt, und sie werden in der Regel im Original mit Untertiteln gestreamt. Deutsch ist dabei somit keine Fiktion oder Übersetzungsleistung und auch keine Gelegenheit für Darsteller, die die Sprache nicht beherrschen, alte plakative Nazi-Akzente aus den 1960er-Filmjahren aufzuwärmen. Die Handlungen spielen sich vor der breitgefächerten Großstadtkulisse ab, die dabei selbst zum feststehenden Charakter wird. Gedreht wird in der Regel in Deutschland; Schauspieler, Drehbuchautoren, Crews, und Produktionsteam stammen von dort. Netflix hat gerade eigene Büros in Berlin eröffnet. In diesen neuen transnationalen Dramen wird die Stadt konzipiert als integraler Bestandteil der Erzählung selbst. Auch Berlin ist Entstehungsort, Schauplatz und Protagonistin. „Deutschland 83“, „Babylon Berlin“, „Dogs of Berlin“ und die jetzt für die Golden Globes nominierte „Unorthodox“ heißen die neuen Berliner Stadtserien, die im Ausland nicht nur verfügbar sind, sondern mit ungeahnter Popularität den Weg dort auf die Bildschirme finden.

Das Genre des spannungsgeladenen deutschen Films erlebt ein Comeback in Seriengestalt. Die Vergangenheit ist dabei meist Teil des Plots. Die New York Times hat in diesem Zusammenhang vor kurzem „eine neue Ära des deutschen Fernsehens“ ausgerufen. Vorboten gab es bereits in der Literatur. Es ist nicht lange her, da wurde Hans Falladas Buch von 1947 „Keiner stirbt für sich allein“ ein englischer und hebräischer Bestseller. Der Erfolg wurde auch mit auf den Titel zurückgeführt, der in den 2009 und 2011 erschienenen Übersetzungen „Allein in Berlin“ heißt. Angebissen hatten damals viele Leserinnen und Leser, die „schon so viel vom ‚neuen Berlin’ gehört hatten, dass sie das alte auf neue Art fasziniert,“ wie es der Literaturkritiker Georg Diez formulierte. In den neuen Netflix-Produktionen wird das Image einer bunt gefächerten toleranten Metropole bedient, die ihre Vergangenheit nicht verdrängt. Es gibt oft einen Chor an verschiedenen Sprachen, Religionen oder ethnischen Zugehörigkeiten. Manche Serien führen zu Begegnungsräumen mit brisanten Themen wie Diversität und Integration. Man kann hier auch von weit her mitfühlen. Eine solche fiktive Großstadt erlaubt und ermöglicht gefühlte Zugehörigkeiten – jenseits von realen Staatszugehörigkeiten und Nationalitäten. Die Frage nach Authentizität ist im Auge des Betrachters. Wer geografisch nah dran ist, kann sich vermutlich am wenigstens damit identifizieren. Was bleibt, ist dann immerhin der Plot. Und wenn er gelungen ist, bietet er die Gelegenheit, uns in diesem Krisenjahr gemeinsam an den Ort, an dem unsere Idee einer Metropole lebt, zurückzuziehen. Damit wird die transnationale Stadtserie zu einer Art neuer Stadtroman des 21. Jahrhunderts.


Dr. Benjamin Nickl
ist Dozent für vergleichende Kultur- und Literaturwissenschaft an der Universität Sydney.

Anne Beier
ist Doktorandin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin und hat zahlreiche Projekte zur Fernsehprogrammforschung geleitet.

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