Brandherde und einsame Wölfe

Der IS ist geschwächt, versteht es aber noch immer, lokale Konflikte für sich zu nutzen. Eine Bestandsaufnahme

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PICTURE ALLIANCE/IMAGEBROKER
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Brandherde und einsame Wölfe

Der IS ist geschwächt, versteht es aber noch immer, lokale Konflikte für sich zu nutzen. Eine Bestandsaufnahme

Mit dem Sieg über das vermeintliche Kalifat in Syrien und dem Irak ist das Thema Islamischer Staat (IS) fast völlig aus den Schlagzeilen verschwunden. Doch der IS existiert weiter, und obwohl geschwächt, versucht er in Afrika und Afghanistan ein „Comeback“. Wo kämpfen die Dschihadisten aktuell, wie stehen ihre Chancen, und was ist die Bedrohungslage in Europa?

Die guten Nachrichten zuerst: Das Kalifat des IS in Syrien und dem Irak, das sich Anfang 2015 über ein Territorium von der Größe Großbritanniens erstreckte und fast zehn Millionen Menschen kontrollierte, existiert nicht mehr. Zwar gibt es noch vereinzelt Dörfer mit starker IS-Präsenz, und viele Kämpfer agieren aus dem Untergrund, doch der „Mythos Kalifat“ – die Idee eines brutalen, unaufhaltbaren dschihadistischen Weltreichs – ist Vergangenheit. Trotz massiver politischer Probleme im Irak und dem nicht enden wollenden syrischen Bürgerkrieg rechnet aktuell niemand damit, dass der IS in seinem einstigen Kernland wieder so stark wird wie er es vor fünf Jahren war.

Das erklärt auch, weshalb die dschihadistische Bedrohung in Europa zurückgegangen ist. Für viele der europäischen Attentäter war das Kalifat nicht nur Inspiration, sondern Operationsbasis und Ausbildungslager. Selbst bei Einzeltätern, wie zum Beispiel im Sommer 2016 in Würzburg, kamen die Anweisungen per Handy aus dem syrischen Rakka. Ohne diese Infrastruktur bleiben dem IS nur „einsame Wölfe“, die keine Verbindung zur Organisation haben, häufig psychisch labil sind und ihre Anschläge mit primitiven Mitteln durchführen. Eine dschihadistische Bedrohung gibt es nach wie vor, aber die Terrorwelle von 2015-2017 – mit Hunderten von Toten und dramatischen, oftmals von langer Hand geplanten Anschlägen in großen europäischen Städten wie Paris, Brüssel, Berlin, Nizza, Manchester, Stockholm und Barcelona – ist vorüber.

Zum Feiern ist es dennoch zu früh, denn der IS hat mittlerweile neue Schlachtfelder für sich entdeckt. Sein Schwerpunkt hat sich vom Zentrum – das heißt dem Nahen Osten und Europa – in die Peripherie verlagert, besonders nach Afrika und Afghanistan. Die Strategie ist dieselbe, mit der er in Syrien und dem Irak Erfolg hatte: Der IS taucht dort auf, wo es chaotische Bürgerkriege und religiöse Spannungen gibt, Regierungen die Kontrolle verloren haben und sich der IS als (brutale) Ordnungsmacht positionieren kann. Eine wichtige Rolle spielen dabei vermehrt die Auslandskämpfer, die in Syrien und dem Irak gekämpft haben, nach Zusammenbruch des Kalifats in ihre Heimatländer zurückgekehrt sind und jetzt ihre Kampferfahrung an die eigene Bevölkerung weitergeben.

In Afghanistan zum Beispiel tat sich der IS immer schwer damit, Fuß zu fassen. Das lag zum einen daran, dass er mit den Taliban einen mächtigen Konkurrenten im islamistischen Lager hatte. Andererseits sorgten die Amerikaner dafür, dass jedes Aufkeimen der Gruppe bereits im Ansatz militärisch erstickt wurde. Mit den derzeitigen Friedensverhandlungen hat sich die Lage dramatisch verändert. Junge, häufig ultraradikale Kommandanten der Taliban wollen von Frieden nichts wissen, die Zentralregierung ist schwach, und Trumps Regierung hat bereits mit dem Rückzug amerikanischer Truppen begonnen. Wie zu Beginn des syrischen Konflikts konzentriert sich der IS darauf, Anhänger aus Gefängnissen zu befreien – über 600 allein bei einer Kommandoaktion Anfang August. Wie stark die Gruppe werden kann, lässt sich schwer sagen. Doch besteht kein Zweifel, dass sie versucht, vom aktuellen politischen und militärischen Vakuum zu profitieren.

Ein weiterer Brandherd ist die mehrheitlich muslimische Provinz Cabo Delgado im Norden Mosambiks, wo seit 2017 ein Aufstand wütet. Anfangs sporadisch und nahezu unbemerkt, hat sich der Konflikt in kurzer Zeit zu einem der größten in Afrika entwickelt – nicht zuletzt, weil er sich in Nähe der größten Erdgasvorkommen des Kontinents abspielt. Wie in Syrien infiltrieren dort IS-Kämpfer zum Teil über Monate Dörfer und kleinere Städte, bauen sich geduldig eine Basis auf, identifizieren Unterstützer und Gegner, und geben sich dann – scheinbar überraschend – als neue Machthaber zu erkennen. Erst letzten Monat eroberte die Gruppe auf diese Weise einen der wichtigsten Häfen der Provinz. Die Regierung in Maputo hat das Problem erkannt, agiert aber hilflos. Auch verschiedene Söldnerfirmen, darunter die russische Gruppe Wagner, konnten den IS nicht stoppen.

Die Lage in Westafrika ist ähnlich. Dort hatte sich die nigerianische Gruppe Boko Haram bereits 2015 dem Kalifat angeschlossen und nennt sich seitdem „IS-Westafrika-Provinz“. Der nigerianischen Regierung gelang es in den Jahren 2015 und 2016, die Gruppe aus ihrem Stammland, dem Nordosten Nigerias, zu vertreiben. Doch seitdem haben sich die Kämpfer in Nachbarländern ausgebreitet und sind mittlerweile in der gesamten Region aktiv: vom Tschad über Niger bis hin zu Kamerun, Burkina Faso und Mali, wo sich die Gruppe mit IS-Kämpfern aus der Sahel-Region verbündet hat. In all diesen Länder existiert ein idealer „Nährboden“ für den IS. Auch wenn sich die Gruppe seit Monaten in Konflikten mit anderen dschihadistischen Gruppen aufzehrt, haben es die Regierungen in der Region bislang nicht geschafft, ihre Ausbreitung einzudämmen.

Positiv an diesen Entwicklungen ist einzig, dass das Phänomen IS diffuser geworden ist und der IS nirgendwo die Chance hat, so konzentriert und massiv aufzutreten wie Mitte des vergangenen Jahrzehnts in Syrien und dem Irak. Auch sind die Länder, in denen die Gruppe derzeit stark ist, ideologisch von weniger überragender Bedeutung als Syrien und der Irak. Ein „Wiederauferstehen“ des Kalifats ist deshalb unwahrscheinlich, und auch die Sicherheitslage in Europa wird sich– zumindest kurzfristig – nicht dramatisch verschärfen.

Trotzdem ist es wichtig, die Situation nicht aus den Augen zu verlieren. Zusätzlich zu den bereits genannten Ländern gibt es mindestens ein halbes Dutzend weiterer Staaten, in denen sich ein Wiedererstarken des IS beobachten lässt – darunter Somalia, Kenia, Libyen, Tunesien, Algerien und der Jemen. Auch im Nahen Osten gibt es trotz der militärischen Niederlage des IS noch Unterstützung, besonders in den Flüchtlingslagern im Irak und in Syrien, die von Experten als „Brutstätte“ des Dschihadismus beschrieben werden. Hinzu kommt, dass die politischen Konflikte, die zum Aufstieg des IS geführt haben – „schwache“ oder „gescheiterte“ Regierungen, Korruption und ethnisch-religiöse Konflikte – nirgendwo gelöst sind. Wer von der nächsten „Welle“ nicht überrascht werden will, muss jetzt am Ball bleiben.

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