Editorial des Verlegers
Editorial des Verlegers
Liebe Leserinnen und Leser,
man stelle sich nur einmal vor, wie es gewesen wäre, hätte es Twitter schon 1972 gegeben. Willy Brandt hätte wohl erhaben geschwiegen, Helmut Schmidt aber geschliffene Sentenzen abgefeuert, Walter Scheel Schlager gepostet (Christian Anders’ „Es fährt ein gelber Zug nach Nirgendwo“ vielleicht?) und Rainer Barzel sich selbst zitiert, in Anführungsstrichen und einem TB – für „Team Barzel“ – dahinter. Die eigentlichen Stars wären aber mit Sicherheit Herbert Wehner („Das können Sie halten, wie Du willst“ – auf die Frage eines Genossen, ob dieser ihn duzen dürfe) und Franz Josef Strauß („Ich hoffe, es geht dem deutschen Volk nie so schlecht, dass es glaubt, mich zum Bundeskanzler wählen zu müssen.“) gewesen.
Auch ohne Social Media war das Jahr 1972 aufregend – in das uns Hartmut Palmer in diesem Hauptstadtbrief entführt, mitten hinein in die aufregende Phase des Misstrauensvotums gegen Bundeskanzler Brandt, durch das Unionskandidat Barzel hoffte, ihn abzulösen. Palmer, Jahrzehnte lang politischer Korrespondent in Bonn und Berlin, erzählt in seinem Beitrag, wie er aus seinen Hintergrundinformationen einen packenden Roman machte – „Verrat am Rhein“ ist diese Woche im Gmeiner Verlag erschienen –, der im besten Sinne zwischen Erzählung und Tatsachenbericht oszilliert. Die Lektüre des Textes und des Romans kann ich Ihnen nur wärmstens ans Herz legen.
Im zweiten Beitrag dieses HSB präsentiert Sabine Ruß-Sattar das Tableau der wichtigsten Darsteller einer besonderen Inszenierung jenseits des Rheins. Die Politikwissenschaftlerin der Universität Kassel und Frankreich-Expertin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) stellt die wichtigsten Kandidatinnen und Kandidaten der französischen Präsidentenwahl im April vor. Deren Ausgang dürfte für die Zukunft Europas von kaum überschätzbarer Bedeutung sein.
Auch ein Schauspiel besonderer Art war es, an das Günter Bannas in seiner Kolumne in dieser Woche erinnert. Zehn Jahre ist es her, dass Christian Wulff seinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten erklärte, nach wilden Wochen in Berlin und Hannover, die heute wie eine andere Epoche anmuten mögen.
Anne Wizorek spießt in ihrer Direktnachricht ein Unding auf, das fiskalkonservative wie sozialstaatlich gesinnte Geister gleichermaßen gegen den Strich gehen sollte – den Umgang mit Menschen, die sich Fahrscheine für den öffentlichen Nahverkehr kaum und die schnell exorbitant hohen Bußgelder schon gar nicht leisten können, was schließlich aber auch den Staat teuer zu stehen kommt.
Im Postskriptum fragt sich Lutz Lichtenberger, warum sich die einst stolze und ernstzunehmende Republikanische Partei in den USA nicht endlich von der Vulgarität und dem peinlichen Gehabe eines abgewählten Präsidenten befreien kann.
Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich bis zur nächsten Woche – in der Sie eine Sonderausgabe des Hauptstadtbriefs und der Security Times zur Münchner Sicherheitskonferenz erwartet
Ihr Detlef Prinz