Kolumne | Aus dem Bannaskreis
Kolumne | Aus dem Bannaskreis
In neuer Form, die sich nicht mehr auf privat erscheinendes Verhalten beschränkt, greift – jetzt in Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine – eine fast mittelalterliche Sucht nach Selbstgeißelung um sich. Nachträgliche Besserwisserei verlangt Buße, Reue und Verzicht. Die höchsten Ebenen von Diplomatie, Politik und Wirtschaft sind betroffen. Immer neue Anhänger dieses urdeutschen, nun areligiösen Flagellantentums treten auf – in Parteien, außerhalb des Parlaments, bei Twitter.
Waren Vorläufer dieser Bewegung seit Jahren zu erkennen? Beginnend mit Rauchverboten fast allerorten? „Freie Fahrt für freie Bürger“ taugt nur noch als Verballhornung seiner selbst. Fleisch? Ein Wochenende in Dubai? Billig-Klamotten aus Dritte-Welt-Ländern? SUV-Fahren? Der Index wurde lang und länger, die Entschuldigungen schal und schaler. Nicht einmal der gegen die Grünen gerichtete Vorwurf „Verbotspartei“ wirkt noch. Als Totschlagargument entlarvt, verlor er an Wirkung. Die beiden herkömmlich führenden Parteilager, Christdemokraten und Sozialdemokratie, reißen sich anpassend (Appeasement?) darum, die stärker werdenden Grünen als Bündnispartner zu gewinnen. Zu registrieren ist auch, dass die Grünen – ausgerechnet! – der stabilste Faktor der drei Ampelparteien sind. Auf die Geschlossenheit seiner SPD (siehe Bundeswehrertüchtigung) und der FDP (Corona-Bekämpfung) kann Olaf Scholz nicht bauen. Auf die Grünen aber ist Verlass, so sehr sogar, dass sie den Kanzler übertrumpfen wollen, was diesen wiederum als führungsschwach erscheinen lässt. Was früher als falsch galt, ist heute richtig. Und umgekehrt – von Gasgeschäften mit Russland bis hin zu Handelsbeziehungen mit China. Als ob der globalisierte Markt der deutschen Wirtschaft freie Hand ließe. Menschenrechtsbasierte Handelspolitik gilt nun als Maß aller Dinge.
Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj, der Täter und das Opfer, haben jeder auf seine Weise das Flagellantentum in Deutschland angeheizt. Das nachträgliche Eingestehen von Fehlern wird verlangt, samt Selbstbezichtigungen. Schon immer hätte man – sagen die, die hernach vieles besser wissen – wissen müssen, was Putin im Schilde führe. Im Visier haben sie Frank-Walter Steinmeier und Angela Merkel, so als hätten die beiden nicht nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, sondern allenfalls als Naivlinge oder auch als Kollaborateure Russlands. Abermals zeigt sich, dass Reuebekundungen in der öffentlichen Kommunikation wirkungslos sind. Dass Steinmeier wegen Putins Krieg, von dem doch fast alle versichern, ihn nicht vorhergesehen zu haben, Fehleinschätzungen eingestand, hielt das Staatsoberhaupt in abträglichen Schlagzeilen (Gerhard-Schröder-Nähe). Ob Merkel besser beraten war? Seit ihrer Erklärung, sie habe sich nicht zu korrigieren, gilt nicht die abtauchende Ex-Kanzlerin, obwohl sie 16 Jahre lang die „Richtlinien der Politik“ bestimmte, im veröffentlichten Mainstream als Architektin deutscher Russlandpolitik, sondern Steinmeier und mit ihm die SPD, was zeigt, dass das – nach Bußfertigkeit gierende – Flagellantentum nicht frei von parteipolitischen Interessen ist.