Warum wir ein Klagerecht für Arten brauchen. Umwelt- und Naturschutzziele müssen endlich verbindlich werden
Warum wir ein Klagerecht für Arten brauchen. Umwelt- und Naturschutzziele müssen endlich verbindlich werden
1988 haben die Nordsee-Robben den Verkehrsminister der Bundesrepublik Deutschland verklagt. Die Robben klagten gegen die andauernde Vergiftung ihres Lebensraums, es ging um ihr Überleben – nicht nur einzelner Tiere, sondern das der ganzen Art.
Eine Behörde aus dem Verantwortungsbereich des Verkehrsministeriums, das Deutsche Hydrographische Institut in Hamburg, hatte deutschen Unternehmen jahrelang gestattet, giftige Abfälle unter anderem von Bayer in die Nordsee zu pumpen, mehr als 300 000 Tonnen pro Jahr. Schon im April 1988 waren tote Robbenbabys an die Strände gespült worden, später verendeten auch ältere Tiere, allein in Schleswig-Holstein 500 pro Woche. Bald war klar, dass die Seehunde an einer Viruserkrankung starben, aber auch, dass es die vielen Umweltgifte in der Nordsee waren, die sie so geschwächt hatten, dass sie den Viren nichts entgegensetzen konnten. Acht große Umweltverbände schlossen sich zusammen, um gemeinsam gegen die Bundesregierung zu klagen – im Namen der Robben.
Doch das Hamburger Verwaltungsgericht, das immerhin Stellungnahmen von den Unternehmen eingefordert hatte, wies die Klage ab. Die Begründung: Robben seien im juristischen Sinne Sachen und damit nicht klagefähig.
Doch seitdem hat sich viel geändert: 1990 hat der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im Bürgerlichen Recht verabschiedet, mit dem geklärt wurde, dass Tiere juristisch nicht länger wie Sachen zu behandeln sind. Seit 2002 ist der Schutz der Tiere als Staatsziel im Grundgesetz verankert. Im Mai 2019 warnte der Weltbiodiversitätsrat: Eine Million Arten vom Aussterben bedroht! Es scheint mir an der Zeit, das Thema Klagerechte für Arten neu in die Diskussion zu bringen – nicht nur, weil die Grünen Teil der neuen Regierungskoalition sind.
Der US-amerikanische Jurist Christopher Stone entwickelte die Idee eines Klagerechtes für Tiere schon vor Jahrzehnten. Er schlägt sogar vor, dass nicht nur Arten, sondern natürliche Objekte generell, also auch Flüsse oder Berge, klagebefugt sein sollen. Ist das erstaunlich, vielleicht sogar absurd? Stone erinnert daran, dass sich die Vorstellungen der Menschen über Moral und Recht im Laufe der Geschichte immer wieder verändert haben. Zum Beispiel die Vorstellung darüber, was man rechtmäßig besitzen kann. Es gab Zeiten, in denen Menschen andere Menschen besaßen. Und es gab Zeiten, in denen Männer ihre Frauen besaßen. Und Väter ihre Kinder. Die Rechtslage hat sich inzwischen geändert, Leibeigenschaft und Sklaverei wurden verboten, und auch das Empfinden der meisten Menschen in diesen Fragen hat sich geändert. Stone beruft sich auf Charles Darwin, der die Geschichte des moralischen Empfindens der Menschheit als ständige Erweiterung beschrieben hat: Erst zählte nur der eigene Clan, dann auch die anderen Menschen des gleichen Standes, schließlich alle Mitglieder seiner Gesellschaft, die Menschen anderer Rassen und schließlich sogar die Tiere.
Der Juraprofessor Stone argumentiert nun, dass auch die Geschichte des Rechts eine ähnliche, parallele Entwicklung genommen habe. Die Vorstellung darüber, wer Rechte besitze, habe sich kontinuierlich erweitert. Jahrhundertelang hatten Kinder keine Rechte, ebenso wenig Gefangene, Fremde, Frauen, psychisch Kranke, Afroamerikaner und Indigene in Amerika. „Tatsache ist: Jedes Mal, wenn es eine Bewegung gab, einer Gruppe Rechte zu verleihen, die vorher noch nicht keine hatte, wurde dieser Vorschlag als seltsam oder furchterregend oder lächerlich abgewertet.“ Bis das Undenkbare denkbar wurde – und rechtlich verankert.
Auch das deutsche Recht hat sich in diesem Sinne verändert: 1988 wäre eine Klage gegen das Töten männlicher Küken in den Brütereien der Eierindustrie vermutlich als unzulässig abgewiesen worden. Damals galten die Küken ja noch als Sachen, und die Brütereien hatten das Recht, mit ihren Sachen zu machen, was sie wollten. Das ist heute nicht mehr denkbar. 2013 hatte das Land Nordrhein-Westfalen das Töten der männlichen Hühnerküken, der Brüder der zukünftigen Legehennen, sofort nach dem Schlüpfen per Erlass verboten. Zwei Brütereien klagten gegen das Verbot und bekamen zunächst sogar Recht. Im Juni 2019 entschied das Bundesverwaltungsgericht: „Im Licht des im Jahr 2002 in das Grundgesetz aufgenommenen Staatsziels beruht das Töten der männlichen Küken für sich betrachtet nach heutigen Wertvorstellungen nicht mehr auf einem vernünftigen Grund. Die Belange des Tierschutzes wiegen schwerer als das wirtschaftliche Interesse der Brutbetriebe.“ Zur Praxis in den Brütereien, die männlichen Küken nach dem Schlüpfen zu töten, weil sie weder Eier legen können noch schnell zu mästen sind, schrieb das Bundesverwaltungsgericht: „Dem Leben eines männlichen Kükens wird damit jeder Eigenwert abgesprochen. Das ist nicht vereinbar mit dem Grundgedanken des Tierschutzgesetzes, für einen Ausgleich zwischen dem Tierschutz und menschlichen Nutzungsinteressen zu sorgen.“
Warum das Gericht nach dieser Klarstellung den Brütereien dennoch erlaubt hat, vorläufig weiter Küken zu schreddern, können vermutlich nur Juristen verstehen. Das Gericht argumentierte: Weil die heutige Praxis jahrzehntelang hingenommen worden sei, könne von den Brutbetrieben eine sofortige Umstellung ihrer Betriebsweise nicht verlangt werden.
Trotz dieser Entscheidung zeigt das Urteil, dass sich die Stellung der Tiere im deutschen Recht innerhalb der vergangenen Jahre grundlegend geändert hat. Tiere sind nicht länger Sachen, sondern sie haben einen Eigenwert. Das hat das höchste deutsche Gericht für Verwaltungsrecht bestätigt – auch wenn das Urteil Millionen Küken nicht vor einem erbärmlichen Tod retten wird. Es hat den Weg geebnet für zukünftige Urteile, die Überlebensfragen über Wirtschaftlichkeitsfragen stellen werden. Und es zeigt, wie sich das Recht in Darwins und Stones Sinne weiterentwickelt.