Kein Geheimdienst, kein Gericht – um die AfD muss die Demokratie sich schon selbst kümmern
Kein Geheimdienst, kein Gericht – um die AfD muss die Demokratie sich schon selbst kümmern
Man schafft kein Übel ab, indem man es verbietet. Nach den Provokationen von AfD-Abgeordneten und ihren „Gästen“ im Deutschen Bundestag spielen einige mit dem Gedanken, die Rechtspartei zu verbieten. Das ist keine gute Idee. Fast sechs Millionen Deutsche haben sie 2017 gewählt, ihre 89 Abgeordneten bilden die größte Oppositionsfraktion. In den Landtagen vor allem der ostdeutschen Länder (wo jeder Vierte, in Sachsen bald jeder Dritte ultrarechts gewählt hat) sitzen 248 Mandatsträger, weitere Hundertschaften in Kommunalparlamenten und Ortsbeiräten. Kaum zu ignorieren ist die breite Unterstützung der AfD, die sich aus einer Euro-kritischen Professorenpartei bis zur Unkenntlichkeit gehäutet hat: in eine völkisch-autoritäre, antidemokratische Partei. Sie zu verbieten, hieße frei nach Bertolt Brecht, sich ein anderes Volk wählen zu wollen.
Abgesehen davon demonstriert das Scheitern des NPD-Verbotsverfahrens 2017, dass ein neuer Antrag in Karlsruhe (und Straßburg) nur durchkäme, wenn zu belegen wäre, dass diese „NPD-Light“ noch radikaler ist als das Original, ihr rechte Gewalttaten anzulasten sind und sie ansatzweise in der Lage wäre, die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu bedrohen.
Nachdem die NPD dem Verbot entgangen ist, weil sie zu klein und unbedeutend war, ist ein Parteiverbot jetzt problematisch, weil die AfD zu bedeutend ist, um die von ihr ausgehende Gefahr für die Demokratie auf juristischem Wege zu bändigen. Das Dilemma der im NPD-Urteil kreierten „Potentialität“ war ja, dass diese Verbotsvoraussetzung gegen eine wirklich bedeutende Partei politisch nicht durchzusetzen ist oder nur um den Preis, die Demokratie arg zu verkürzen.
Die Hochstufung der AfD vom Verdachts- zum Prüffall durch den Verfassungsschutz zeigte Wirkung, aber der scheinbare Erfolg dieser geheimdienstlichen Drohung war eher ein Armutszeugnis der „gemäßigten“ Funktionäre, Mitglieder, Anhänger und Wähler, die um ihre bürgerliche Reputation und berufliche Stellung bangten, wenn sie mit Ansichten eines Björn Höcke und dem identitären Aktionismus der „Jungen Alternativen“ identifiziert werden. Am Ende hat der geheimdienstliche Bannstrahl die AfD nicht veranlasst, sich zu mäßigen, eher übernahm der „Flügel“ den ganzen Rumpf.
Parteiverbote sind ein scharfes, doppelseitiges Schwert. Die Auseinandersetzung mit Altnazis und Stalinisten in der Frühzeit der Bundesrepublik war nicht wegen der 1952 gegen die SRP und 1956 gegen die KPD ausgesprochenen (und bisher einzigen) Verbote erfolgreich, sondern durch deren politische Marginalisierung. So gut wie niemand brauchte sie.
Und wer braucht heute die AfD? Seit 2019 ist sie in Niedergang und Selbstzerfleischung begriffen, bei der Bundestagswahl ein Absturzkandidat; nun möchte sie sich als Krisengewinnler der Pandemiekrise im Schulterschluss mit Verschwörungstheoretikern und Reichsbürgern, Maskenverweigerern und Impfgegnern regenerieren. Noch makabrer als 2015, als Alexander Gauland zynisch erklärte, etwas Besseres als die Flüchtlinge hätten seiner Partei gar nicht passieren können, will die Partei jetzt die Verunsicherung durch die Corona-Pandemie nutzen. Stirb draußen: Das ist schlicht menschenfeindlich.
Hinter beziehungweise eher neben der halbwegs berechenbaren Partei formiert sich der politische Amoklauf in Gestalt einer unstrukturierten Bewegung, die von der AfD keine Direktiven annimmt und sie eher vor sich hertreibt. Der schwarze Tag im Deutschen Bundestag und der vorherige eher symbolische Sturm auf die Treppe des Reichstags haben gezeigt, was diese Wutbürger beabsichtigen: die Diskreditierung der Demokratie als Herrschafts- und Lebensform. Gaulands martialische Ankündigung von 2017, man werde die zur Diktatur hochstilisierte Regierung Angela Merkels jagen, war ein Echo auf Donald Trumps Aufruf, Hillary Clinton einzusperren („lock her up!“). Dass die AfD Joe Biden den Wahlsieg nicht gönnt, unterstreicht ihre Vorliebe für Trumps disruptive Methoden, mit denen er die politische Wirklichkeit derealisiert hat.
Nach langer Verharmlosung und Indifferenz ist nun wohl jedem klar, wie sich das sektiererische Bild drohender „Umvolkung“ durch Migranten auch in Deutschland eingenistet hat. Dem Parteitag wurde gerade ein Renten-Programm vorgelegt, das seine Nähe zum „nationalen Sozialismus“ der NSDAP gar nicht mehr verbergen will. Die von der AfD verbreiteten Phobien streuen weit in die Mitte der Gesellschaft, in deren Untergrund sich Hetzer und Gewalttäter beauftragt fühlen, zur Tat zu schreiten.
Die Kräfte rechts der Union werden sich nicht einfach in Luft auflösen; es gilt, sie politisch in Schach zu halten.
Aber wieso schreitet eine streitbare Demokratie dann nicht endlich zum Verbot? Eine Organisation könnte man vielleicht verbieten, eine solche Bewegung nicht. Nicht nur würde ein Verbotsantrag die im Sinkflug befindliche AfD zum Märtyrer stilisieren und sie im Fall eines erneut in Karlsruhe gescheiterten Antrags zum moralischen Sieger erklären. Auch werden die Jahre, die bis zu einem Urteil verstreichen würden, besser genutzt, der angezählten Partei coram publico den Knockout zu versetzen. Nicht der Nachweis „verfassungsfeindlicher Ziele“ bescherte Ende der 1980er-Jahre Franz Schönhubers „Republikanern“ das verdiente Aus, es waren Wähler und Wählerinnen. Unterdessen hat die Bindekraft der etablierten Parteien und das Vertrauen in die politischen und medialen Eliten weiter nachgelassen, und das europäische und globale Umfeld demonstriert, dass der Autoritarismus auf dem Wählermarkt wettbewerbsfähig ist. Statt ihn zu ächten, ist das Koalitionstabu in Europa schon mehrfach gebrochen worden; in Thüringen hätte die AfD vergangenes Jahr um ein Haar eine Option auf Teilhabe an der Regierungsmacht zugespielt bekommen.
Wer die radikale Rechte aufhalten will, darf die Auseinandersetzung nicht an einen Geheimdienst und ein Gericht delegieren. Die robuste Verteidigung der Demokratie muss nicht nur der AfD Paroli bieten, sondern auch überzeugende Wege aus den Krisen der Gegenwart weisen. Wer nach einem Parteiverbot schielt, hat diesen bitter notwendigen Kampf im Grunde schon aufgegeben.