In der Stunde der Krise zeigt sich aufs Neue, was Deutschland und Europa an Angela Merkel haben
In der Stunde der Krise zeigt sich aufs Neue, was Deutschland und Europa an Angela Merkel haben
Als der US-amerikanische Journalist Carl Bernstein, einer der beiden legendären Washington Post-Reporter der Watergate-Enthüllungen, der deutschen Bundeskanzlerin vor wenigen Tagen Eigenschaften einer Ente bescheinigte, spielte er damit nicht auf Angela Merkels Entscheidung vom Oktober 2018 an, keine Wiederwahl anzustreben und damit womöglich zur lame duck zu werden. Vielmehr drückte Bernstein seine Bewunderung für den Umgang der Bundeskanzlerin mit einem schwierigen Partner aus: Merkel habe auf Donald Trumps Neigung zu „Telefon-Mobbing“ souverän reagiert: „So wie Wasser auf dem Rücken einer Ente, ließ sie es an sich abperlen.“
Wurde die stoische Ruhe der Bundeskanzlerin früher als „präsidentielles Zaudern“ gedeutet, das dem Amt einer Regierungschefin nicht angemessen sei, setzen derzeit offenbar alle Mitgliedstaaten der EU genau darauf: auf die Besonnenheit, die politische Erfahrung sowie das Verhandlungsgeschick der deutschen Kanzlerin. Natürlich liegt die deutsche EU-Ratspräsidentschaft bei der Bundesregierung im Gesamten, und sehr viele Akteure auf unterschiedlichen Ebenen werden in den kommenden sechs Monaten in höchstem Maß gefordert sein. Dennoch: Viele der sehr hohen Erwartungen an den deutschen Vorsitz im Rat der Europäischen Union richten sich an Angela Merkel.
Die Herausforderungen sind bekannt: Über den Corona-Wiederaufbauplan in Höhe von 750 Milliarden Euro ist längst noch nicht entschieden. Die existentiellen Sorgen vor allem der Südeuropäer müssen in einen Ausgleich zum Widerstand der „sparsamen Vier“ gebracht werden – und zwar zügig. Nicht nur Italien braucht schnelle Hilfe, um überhaupt eine Chance zu haben, die sich abzeichnende desaströse Pleitewelle abzuwenden. Die frühzeitige Positionierung der großen Koalition in Berlin zugunsten des Wiederaufbaufonds sorgt für die notwendige Transparenz. Hinzu kommt, dass es einer Kanzlerin, deren Widerstand gegen Eurobonds legendär ist, womöglich auch leichter fällt, glaubwürdig und angemessen auf die Befürchtungen der Gegner kreditfinanzierter Zuschüsse durch die Europäische Kommission einzugehen. Allein die Lösung dieser Aufgabe wäre schon ein ratspräsidentschaftsfüllendes Mammutprojekt.
Endgültig anspruchsvoll wird die Aufgabe dadurch, dass das Vorhaben höchstens dann gelingen wird, wenn dessen Kritiker sich auf etwas verlassen können: Die anderen europäischen Zukunftsaufgaben – etwa der Green New Deal, die europäische Solidarität nach dem Brexit sowie die gemeinsame Haltung gegenüber den Ambitionen Chinas – dürfen nicht nur auf eine vollmundige Ankündigungsliste gesetzt werden, sondern sind spürbar voranzubringen. Die Bundesrepublik muss also auf der europäischen Bühne etwas leisten, was der schwarz-roten Koalition vor Corona nur selten gelungen ist: einen Bezug zum Alltag möglichst vieler Leute herzustellen. Bezogen auf die EU heißt das, es muss wieder sichtbar und spürbar werden, dass Europa tatsächlich „nützt und schützt“. Noch schwieriger geht (hoffentlich) nicht.
Zu Beginn der Corona-Pandemie waren selbst die noch verbliebenen Anhänger der Europäischen Union zutiefst ernüchtert: Statt solidarischer Unterstützung für die europäischen Staaten, die die Pandemie am härtesten getroffen hatte, gab es Schlagbäume. Statt rechtzeitiger und gemeinsamer europäischer Krisenvorsorge traten die Mitgliedstaaten bei der Beschaffung von Schutzausrüstung in Konkurrenz zueinander. Dass die meisten Beobachter gerade auch außerhalb Deutschlands trotz der gemachten Fehler und ungeachtet der widersprüchlichen grundsätzlichen Interessen der Mitgliedstaaten dennoch mit Zuversicht auf die deutsche Ratspräsidentschaft blicken, ist der Kanzlerin zu verdanken.
Man braucht ihre Fehler etwa im Umgang mit den europäischen Partnern in der Eurokrise und in der Migrationskrise nicht kleinzureden, um dennoch festzustellen: Deutschland hat seine „europäische Balance neu gefunden“ (Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung) – und das ist vor allem dem Regierungsstil seiner Kanzlerin und ihrer Maxime „Ich muss die Dinge verstanden haben, bevor ich entscheide“ zuzuschreiben. Die Erwartung unserer europäischen Partner, Deutschland solle während seiner EU-Ratspräsidentschaft vor allem die Rolle des „ehrlichen Maklers“ ausfüllen, deckt sich erwiesenermaßen mit Merkels Amtsverständnis. Gerade die Coronakrise führt der Welt vor Augen, dass populistisch veranlagte Amts- und Mandatsträger zwar gut darin sind, Finger in bestehende Wunden zu legen, die durch ökonomische, politische oder gesellschaftliche (Fehl-)Entwicklungen entstanden sind. Dieselben Politiker scheuen aber den Aufwand, diesen Problemen mehr entgegenzusetzen als nationalistische Parolen und die eigene Selbstüberschätzung.
Die deutsche Bundeskanzlerin verkörpert in jeder Hinsicht das Gegenmodell: Ihr wird nicht nur eine nützliche Enteneigenschaft zugeschrieben, sondern vor allem die Uneigennützigkeit, die das (europäische) multilaterale System so dringend benötigt und die einer populistischen Weltsicht diametral entgegensteht. Bei aller Unterschiedlichkeit der Ausgangslagen und damit der politischen Positionen: Nicht nur der Präsident des Europäischen Parlaments, David Sassoli, sondern alle europäischen Mitgliedstaaten erwarten von der Ratspräsidentschaft, dass diese „deutsche Führung zugunsten aller Europäer nutzen“ wird. Ob sich das Vertrauen in die Person und Politikerin Merkel tatsächlich in die sachlich berechtigte Zuversicht ummünzen lässt, dass die EU an Handlungsfähigkeit einerseits und Zustimmung der Bevölkerung andererseits gewinnen wird, bleibt offen. Die Chance ist da.