Das ist die perfekte Welle

Aber nicht der perfekte Tag. Über den Unwillen der Politik zur Einsicht – Zeit zur Corona-Resignation

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PICTURE ALLIANCE/ASSOCIATED PRESS | ALBERTO PEZZALI
Tanz der Aerosole, Folge D: Londons sogenannter Freedom Day am 19. Juli
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PICTURE ALLIANCE/ASSOCIATED PRESS | ALBERTO PEZZALI
Tanz der Aerosole, Folge D: Londons sogenannter Freedom Day am 19. Juli

Das ist die perfekte Welle

Aber nicht der perfekte Tag. Über den Unwillen der Politik zur Einsicht – Zeit zur Corona-Resignation

Jetzt ist sie also da: die vierte Corona-Welle. Auch wenn die meisten Zeitgenossen in der wahlkämpfenden Politik und sonst im Land lieber die Haltung der drei Affen einnehmen. Seit einigen Wochen schon gibt ein Corona-infizierter Mensch in Deutschland das Virus an einen anderen weiter. Neulich lag die Reproduktionszahl an einem Tag bei stolzen 1,38. Wer mag, zücke seine Corona-Warn-App, da sind die Zahlen jeden Tag brav hinterlegt.

Wir werden also einen weiteren Covidherbst erleben. Und auch diese Welle wird wieder anders sein als jede zuvor: Es wird geimpft, ja – aber zu langsam. In vielen deutschen Städten können die Menschen jetzt ohne Termin ins Impfzentrum. In New York hatten sie das schon im Frühjahr eingeführt, von Herdenimmunität ist die Stadt auch heute noch weit entfernt.

Konflikte zwischen Geimpften und Ungeimpften sind programmiert. Dem Virus ist das egal. Es macht einfach weiter auf seinem Weg, immer besser zu werden. Die zuerst in Indien sequenzierte Delta-Variante überträgt sich in Weltregionen, wo jetzt die kalte Jahreszeit herrscht, von Mensch zu Mensch „im Vorbeigehen“. Die Studien aus Australien sind eindeutig: Dort wurden Überwachungskameras in einem Einkaufszentrum ausgewertet und zweifelsfrei Infektionsketten nachvollzogen. Ebenso stecken sich Menschen draußen auf der Café-Terrasse an, bei „flüchtigen“ Begegnungen, heißt es dann in den Papieren der Wissenschaftler.

Hatten wir das nicht schon einmal?

Und doch macht die Politik hierzulande wieder den gleichen Fehler: Anstatt schnell zu sein, zu reagieren, wenn in diesen Lauf noch eingegriffen werden kann – lässt sie die Welle rollen. Anstatt jetzt Maßnahmen zu ergreifen, wo die Corona-Kurven noch auf niedrigem Niveau in die Exponentialität rauschen – Stille. Sie erinnern sich: Hatten wir schon mal im vergangenen Oktober, dann im Januar, und so weiter. Mehr noch: Im Sachsen des CDU-Ministerpräsidenten Michael Kretschmer beweisen er und seine Mitstreiter einmal mehr, dass sie weder die Grundlagen von Mathematik noch von Psychologie verstanden haben, und brechen mit der Routine des Maskentragens im Supermarkt.

Im Kern also: nichts gelernt in diesen vergangenen eineinhalb Jahren seit Pandemie-Beginn. Klar, auch Politiker sind Menschen. Und die Schuld an diesem politischen Versagen lässt sich, ohne rot zu werden, auf alle demokratische, dieses Land tragende politische Parteien verteilen, vielleicht ja entsprechend ihres Anteils an Sitzen im Deutschen Bundestag oder ihrer Stärke in den Umfragen zur Bundestagswahl. Wie allerdings die sich als besonders staatstragend empfindende Partei dieses Landes und ihr Vorsitzender und Kanzlerkandidat aus dem katholischen Rheinland diese Politik der Angst mit ihrem und seinem christlichen Menschenbild und dem damit verbundenen Auftrag des Schutzes des Lebens vereinbaren kann, ist ein Rätsel.

Die eigentümliche Angst vor der Krawallfraktion

Die Angst vor einer Minderheit, die Rabatz macht auf der Reichstagstreppe, das Verständnis gegenüber Corona-Schwurblern und Freunden des deutschen Nationalsozialismus konnte einen schonen vergangenes Jahr sprachlos machen. Doch dass die gleichen Politiker immer wieder und wieder einer Minderheit politische Hebelwirkung einräumen gegen die große Mehrheit dieses Landes, die nichts anderes als ein professionelles Pandemie-Management erwartet, ist einer aufgeklärten Kulturnation schlicht unwürdig. Was soll man aber erwarten? Politiker sind ja auch nur Abbild der Gesellschaft, im Grunde wollen viele Bürgerinnen und Bürger ihre Eigenverantwortung vor allem auch an die Politik nur abgeben.

Oder warum sind in den Wochen dieser Fußball-Europameisterschaft Zehntausende in Fußballstadion zu Superspreading-Ereignissen geströmt? Oder hüpfen wie in Großbritannien wieder in Clubs herum, als wäre Delta nicht diese im flüchtigen Vorbeigehen übertragbare Virus-Variante, sondern ein Zusammenfluss größtmöglicher Ekstasen? Wären die Folgen für die Gesundheit viel zu vieler Menschen und ihr künftiges Leben nicht so schrecklich, könnte man lachen über diesen Move neoliberaler Ideologie des Populisten Boris Johnson.

Zwei Modelle: Großbritannien und Frankreich

Mit dem Mann aus Downing Street 10 geht dieser Tage der Chefredakteur des Medizinjournals The Lancet ins Gericht, wie es in der Schärfe wohl nur ein Experte kann, der den ganzen Stolz einer Wissenschaftsgemeinschaft hinter sich weiß, in der die älteste Universität Europas beheimatet ist: „Wir wissen exakt, was passieren wird. Wir wissen, dass es einen Anstieg der Infektionen geben wird, das ist keine experimentelle Hypothese, die es zu testen gilt. Wir wissen, dass es eine Epidemie an Long-Covid-Erkrankungen geben wird. Und wir wissen, dass wir das Risiko weiterer, neuer Virus-Varianten schaffen.“ In der Lebenspraxis bedeutet das: Viele Eltern werden in diesem Herbst erstmals von Vorerkrankungen ihrer Kinder hören, die bis dahin nicht entdeckt worden waren. Covid-19 wird sie brutal auf diese Erkenntnis stoßen.

Auf der hiesigen Seite des Ärmelkanals hat ein anderer Regierungschef hingegen die Notbremse bereits gezogen. Dass Frankreich ein anderes Verhältnis pflegt zwischen Politik und Regierten, steht seit 1789 außer Frage. Emmanuel Macron ist denn auch vorvergangene Woche mit Verve in die Jakobiner-Phase der Pandemiebekämpfung eingetreten. Nach der in Frankreich als Rentrée zelebrierten Rückkehr aus der Sommerpause, sollen die Corona-Tests kostenpflichtig werden. Und gleichzeitig für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben Nachweise über ein negatives Testergebnis oder eine Covid-Genesung verpflichtend sein – oder eben ein Impfnachweis. In der Folge haben sich noch nach der präsidialen Ansage eine Million Franzosen umgehend online einen Impftermin besorgt. „Ich habe nicht mehr die Absicht, mein Leben, meine Zeit, meine Freiheit und die Jugend meiner Töchter für diejenigen zu opfern, die sich weigern, sich impfen zu lassen“, sagt der französische Präsident in Richtung der Impfverweigerer. „Diesmal bleibt ihr zu Hause, nicht wir.“ Und Macron ergänzt: „Die Restriktionen werden nur noch jene betreffen, die – aus unverständlichen Gründen im Land von Louis Pasteur, der Wissenschaft und Aufklärung – noch immer zögern, die einzige verfügbare Waffe gegen die Pandemie, den Impfstoff, einzusetzen.“ Gut möglich, dass er damit seine Wiederwahl vollends aufs Spiel setzt. Doch: Macron führt.

Berliner Gewusel

Und hierzulande? Hier reicht ein Praxistest im Berliner Alltag, um zu verstehen, was schiefläuft: Besuch in einem Kaufhaus des größten schwedischen Möbelherstellers in Berlin. Für den Gang in das Restaurant ist ein Impfnachweis erforderlich. Eine freundliche Dame am Eingang der Möbelkantine blickt auf das schwarz-weiße Gewusel des Impfpass-QR-Codes. Das war’s. Da steht der Name des Passinhabers, das Geburtsdatum darunter hat irgendwann Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kassiert, Datenschutz und so. Die freundliche Dame kann weder bewerten, ob das Alter zum Impfpass passen könnte, noch fragt sie nach dem Personalausweis. Ach ja: Und Geld für einen Impfpass-Scanner, nein, das wäre für die sparsamen Schweden und ihr Milliarden-Unternehmen doch zu viel des Guten.

Da verwundert es auch nicht mehr, dass auch dieses reiche Deutschland, wo gleich zwei von drei mRNA-Impfstoffen gegen Sars-CoV-2 erfunden wurden, nicht alles tut, um zu helfen, die Welt zu impfen. Trotz der nun schon wöchentlichen Hilferufe des Generalsekretärs der Weltgesundheitsorganisation. Der oberste Gesundheitsmanager der Vereinten Nationen betet es jedem herunter, der zuhört: Die Pandemie ist erst vorbei, wenn alle Menschen geschützt sind. Da gäbe es tatsächlich eine Möglichkeit: CureVac heißt der Hersteller aus Tübingen, über dessen Impfstoff der ersten Generation selbst der Corona-Warner Karl Lauterbach (SPD) behauptet, er werde nie zum Einsatz kommen. Dabei ist der Stoff der einzige, der erstmals in einer Studie gegen gleich mehrere Virus-Varianten in Lateinamerika getestet worden ist. Dort kam der Impfstoff auf eine allgemeine Wirksamkeit gegen jedwede Infektion von 53 Prozent. Das sei schlecht, sagen jetzt viele, auch Journalisten aus dem Hause Springer oder eben Lauterbach.

Hier gibt’s Prozente

In Deutschland aber liegen dem Vernehmen nach 80 Millionen vorproduzierte CureVac-Impfdosen herum, die sofort in Lateinamerika, in Afrika den Tod von Menschen zu 100 Prozent und eine schwere Erkrankung zu 77 Prozent verhindern könnten. Allein die Europäische Arzneimittelagentur EMA müsste den Stoff genehmigen und lässt sich Zeit. Diese Woche wurde Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gefragt, ob sie sich vor diesem Hintergrund eine nationale Zulassung durch das Paul-Ehrlich-Institut vorstellen könnte, um den Stoff umgehend an die WHO weiterreichen zu können. Die scheidende Regierungschefin sieht dazu aber keine Veranlassung. Blöd nur, dass tags drauf erste Daten aus Israel darauf hinweisen, dass auch der „Goldstandard“ des Corona-Impfens (Karl Lauterbach), der BioNTech/Pfizer-Impfstoff, nur zu 39 Prozent gegen eine Infektion durch die Delta-Variante hilft. Der Stoff aus dem BioNTech-Labor mit der Adresse „An der Goldgrube 12“ in Mainz wird erst jetzt im Labor der israelischen Gesellschaft am Menschen gegen die neue Virus-Generation getestet.

Jetzt also auf in die nächste Welle: Vielleicht wird sie ja so groß, dass das Virus sich irgendwann tatsächlich totläuft. Dann wären wir in Europa zumindest noch gut in der Zeit. Die Spanische Grippe in den 1920er-Jahren des 20. Jahrhunderts begann nach drei Jahren abzuflauen.

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