Das Wesentliche

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

02
01
02
01

Das Wesentliche

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

Furios sollte das Beethoven-Jahr werden, glanzvoll und strahlend. Aber genau das war es nicht. Wir haben von der Musik dieses Jahrhundertgenies im 250. Jahr nach seiner Geburt nicht allzu viel gehört. Schon gar nicht live. Statt eines rauschenden Fests, das mit unzähligen Events so hingebungsvoll geplant worden war, blieben die Sitzreihen leer, die Saaltüren verschlossen. Ausgerechnet im Beethoven-Jahr dominierte die Stille. Wir haben seine Musik auf Streaming-Plattformen und in Funk- und Fernsehen mancherorts verfolgen können – meist allein. Aber wir konnten sie kaum gemeinsam erleben. Für die kurze Phase der vorsichtigen Öffnung von Konzertsälen im Spätsommer verschwand so mancher erwarteter Genuss hinter dem Erschrecken über spärliche Saalbesetzung, dünnen Applaus und der aufs Peinlichste bedachten Einhaltung von Hygienekonzepten. Ein Fest sieht anders aus.

Beethoven gilt als Komponist der Ideen und Ideale. Er war ein Tonkünstler, der in seiner Musik die gesellschaftlichen Themen der historischen Umbruchzeit, in der er lebte, verhandelte und dabei in der Lage war, sie derart auf das Wesentliche zu verdichten, dass seine rund 240 Werke, seine Sinfonien, Klavierkonzerte und Streichquartette ihre Aktualität nie verloren haben. Mit seiner Musik hat er die Zeitläufte damals kommentiert und tut es bis heute – unerschütterlich hoffnungsfroh, im vollen Vertrauen in das Entwicklungspotential des Menschen und seine Kraft, Dinge zum Positiven zu wenden. Die Urgewalt seiner Musik hätten wir dieses Jahr gut gebrauchen können, den Trost, den man in ihr finden kann, den Humor, den Witz, nicht nur die Schwere, gerade auch deren Leichtigkeit. Doch es sollte alles anders kommen. Was also bleibt?

Das Bemerkenswerte an diesem in der Musikwelt so ungewöhnlichen Jubiläumsjahr ist tatsächlich die Stille. Sie vereitelte jeden Versuch, die Werke dieses singulären Komponisten bis zum Abwinken zu reproduzieren und seine Persönlichkeit unter dem Kitsch und Kommerz eines zum Popstar verklärten Genies zu begraben.

Mehr noch, ausgerechnet durch die Stille im Beethoven-Jahr wird das wohl dringlichste Anliegen des Komponisten augenfällig: die Erzeugung von Gemeinsinn durch gemeinschaftliche ästhetische Erfahrungen, die gar nicht unbedingt Beethovens Werke selbst oder nur klassische Musik zum Inhalt haben müssen, die aber berühren, begeistern, aufwühlen, verstören und versöhnen können. Beethoven wusste darum, wie wichtig solche Gemeinschaftserlebnisse für den Zusammenhalt einer Gesellschaft sind. Genau das hat er in seinen Symphonien besungen und als Künstler in seinen Akademien organisiert. Für jedermann. Manchmal begreift man erst, wenn etwas nicht ist, was es ist: Das gemeinschaftliche, direkte, ja, das physische Erfahren von Kunst ist nicht weniger als eine Frage des sozialen Überlebens.

Weitere Artikel dieser Ausgabe