Republikanischer Schwächeanfall: Frankeich auf dem Weg in die Sechste Republik
Republikanischer Schwächeanfall: Frankeich auf dem Weg in die Sechste Republik
Wer so oft vernommen hat, es sei fünf vor zwölf, merkt nicht, wenn es tatsächlich zwölf schlägt. Zum achten Mal steht der Name Le Pen auf den Wahlzetteln für die französische Präsidentschaft, fünfmal mit dem Vornamen Jean-Marie, heuer zum dritten Mal Tochter Marine. Als der Vater 1974 erstmals für die extreme Rechte antrat und auf weniger als ein Prozent der Stimmen kam, musste niemand vor ihm warnen. Doch zwischen 1988 und 2007 schaffte er jeweils 10 bis 17 Prozent im ersten Wahlgang und erreichte 2002 auch die Stichwahl gegen den Neogaullisten Jacques Chirac. Dieser und der gescheiterte Kandidat der Sozialisten, Lionel Jospin, riefen – fünf vor zwölf! – zu „republikanischer Disziplin“ auf und bescherten Chirac einen haushohen Sieg, mit Beigeschmack. 2012 errang dann Marine Le Pen auf Anhieb knapp 18 Prozent und den dritten Platz hinter dem späteren Wahlsieger, dem Sozialisten Francois Hollande, 2017 und 2022 kam sie in die Stichwahl.
Der unaufhaltsame Aufstieg der Marine Le Pen? Jedenfalls hat sie die Nation nach rechts gedreht und sich selbst unter Beihilfe des (nur verbal radikaleren) Éric Zemmour in die Mitte geschummelt. Amtsinhaber Emmanuel Macron, offensichtlich nervös, ruft wieder zu republikanischer Disziplin auf – fünf vor zwölf, mes chers compatriotes! –, andere folgten mehr oder weniger halbherzig. Besonders jüngere Wähler zwischen 18 und 34 Jahren, die sich am 10. April weit überdurchschnittlich enthalten oder ungültig gewählt haben, stimmten auch überdurchschnittlich für Le Pen und den Linken
Wenn das Schicksal der Fünften Republik vom Wetter abhängt, ist was faul im Lande. Wie kann man ernsthaft zögern, aus Überzeugung oder eben wenigstens als geringeres Übel einen Präsidenten im Amt zu bestätigen, der nach objektiven Maßstäben einiges versäumt, aber auch viel richtig gemacht hat?
Vor einigen Tagen hörte ich auf den Stufen der Pariser Sorbonne Studierenden zu, die sich auf die Besetzung ihrer Uni einstimmten. Bei ihnen bekam Macron mehr Verachtung, ja, Hass zu spüren als die Putin-Freundin Le Pen. Das zeigt die enorme Frustration über das politische System der Fünften Republik und die Skepsis über eine repräsentative Demokratie, in der sich die Mehrheit der Jüngeren nicht gehört fühlt. Die arg gebeutelten Parteien der Linken und Rechten, aber auch die Ökologen sind bei ihnen auf Tiefstwerte abgesunken, und Le Pen („Das Volk steht über dem Recht“) lockt die vom Parlamentarismus Enttäuschten mit der populistischen Masche einer direkten Referendumsdemokratie.
Nur dass man im Fall ihres Sieges in Ungarn angekommen wäre, Windräder abgebaut und Einwanderer vertrieben würden und man an den Grenzen Schlange stehen müsste? Dennoch könnte der Appell des Amtsinhabers, eines großen Teils der Printmedien und verklausuliert auch von Jean-Luc Melénchon, der es um ein Haar in die Stichwahl geschafft hatte, „nützlich“ zu wählen, verpuffen und Marine Le Pen Präsidentin werden. Der treffende Hinweis auf den Beitrag linker Stimmverweigerung zur Machtübernahme Donald Trumps verklingt. Gerade die Jahrgänge, die Macron 2017 in den Élysée hoben, haben sich seither massenhaft von ihm abgewandt.
Die Verzweiflung der „letzten Generation“ reicht vom Ausbleiben ernsthaften Klimaschutzes über ihre in Frankreich besonders prekäre Lage auf dem Arbeitsmarkt und die Fixierung der etablierten Parteien auf die Besitzstandswahrung der Älteren bis zur besonderen Betroffenheit von den Corona-Lockdowns und der Kumulation von Krisen in einem Alter, in dem junge Menschen früher erwartungs- und lustvoll in die Zukunft schauen konnten. Das ist übrigens keine französische Spezialität. Man sollte diese Enttäuschung auch andernorts zur Kenntnis nehmen und endlich eine Politik für die nächste Generation aufsetzen.
Hätte, müsste, sollte: Der Amtsinhaber, der sich in letzter Minute auf die Linke zubewegte, wird am Sonntagabend – wenn überhaupt – nur knapp vorne einlaufen. Auch dann steht ihm eine große Kraftanstrengung bevor. Auf die Präsidentschaftswahl folgen nämlich Parlamentswahlen, und dabei wird der „dritte Pol“ Mélenchons seine regionalen Stärken in den Großstädten demonstrieren. Der Volkstribun hat sich mit einem smarten Zug selbst als Premierministerkandidat aufgestellt und mit der Parlamentswahl einen „dritten Wahlgang“ ausgerufen; wie seine Anhänger darauf reagieren, ist fraglich, doch Premier einer cohabitation könnte er nur unter (in seinem Verständnis: neben) Macron werden. Der ex-sozialistische Senator propagiert den Übergang zur VI. Republik mit Verhältniswahlrecht, womit Le Pens Rassemblement National genau wie Mélenchons La France Insoumise repräsentiert wären und man, anders als in dieser „präsidentiellen Monarchie“, nicht mehr alles auf ein Karte setzen muss und tatsächlich „nützlich“ wählen kann. Die Fixierung auf den Élysée trug dazu bei, dass eine Kandidatin hoffähig wurde, die den Verfassungsbruch und die kalte Auflösung der EU plant. Im TV-Duell mit Macron wirkte sie viel staatstragender und konzentrierter als 2017, und wenn man den letzten Umfragen vom Freitag trauen darf, geht Macron mit einem guten Vorsprung in die Zielgerade. Erschreckend ist gleichwohl, dass auch mehr als ein Fünftel der befragten Linkswähler und Gewerkschaftsmitglieder Le Pen folgen wollen – Mélenchon in der Illusion nationaler Souveränität, die Gewerkschaftler mit der gelbgekleideten Karikatur eines Klassenkampfes gegen „die da oben“.
Die Fünfte Republik mit ihrer doppelten Rechts-Links-Polarisierung von Gaullisten/Liberalen versus Sozialisten/Kommunisten ist bereits Geschichte. Der klassische, in der französischen Nationalversammlung von 1830 erfundene Rechts-Links-Dualismus weicht der Polarisierung eines freiheitlichen, europafreundlichen Zentrums gegen eine völkische Rechte. Le Pen würde eine autoritäre Volksdemokratie errichten und ihren rassistischen Kulturkampf in die Institutionen tragen, Macron setzt dem eine offene, sozialliberal-ökologische Demokratie entgegen und kann die europäische Option erneuern, die von Berlin so lange verweigert wurde. Die Freiheit Europas wird am Sonntag nicht nur in der Ukraine verteidigt. Demokratie versus Autokratie – das ist der Antagonismus unserer Zeit.