Von der Macht der Sprache in verrohten Zeiten. Ein Essay aus gegebenem Anlass
Von der Macht der Sprache in verrohten Zeiten. Ein Essay aus gegebenem Anlass
„Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse.“ Dies schrieb der Romanist Victor Klemperer, als er unmittelbar nach dem Ende des „Dritten Reiches“ dessen Sprache, die „Lingua Tertii Imperii“, kurz „LTI“, analysierte. Klemperer hatte die Ausgrenzung der Nationalsozialisten in einem „Judenhaus“ überlebt, war der Deportation in den Tod dadurch entgangen, dass er in einer „Mischehe“ mit einer „Arierin“ lebte. Derartige Begriffe waren damals normal geworden, Klemperer ist nur einer der vielen Verfolgten, die darüber schrieben, wie ihrer Ausgrenzung auch durch Sprache der Weg gebahnt wurde.
Wie sehr Sprache Gefühle lenkt, vermeintliche Gewissheiten schafft und Annahmen verfestigt, erleben wir gerade wieder mit enormer Deutlichkeit. Worte formen Wirklichkeit, Sprache ist Macht. Populisten wissen und nutzen das. Rechte Ideologen wie Alexander Gauland, der Fraktionsvorsitzende der AfD im Bundestag, und Björn Höcke, Fraktionsvorsitzender der AfD im Thüringer Landtag, um nur die prominentesten zu nennen, benutzen ganz bewusst NS-Sprache und -Argumentation. Da sollen Menschen schon mal „entsorgt“ werden, „dieses politische System“, gemeint ist offensichtlich die Demokratie, müsse „weg“. Sie propagieren einen völkisch-biologischen Nationalismus, und stellen sich „unser Volk“ oder „unser Vaterland“ als eine ethnisch-homogene Gemeinschaft vor. Im Zuge der Flüchtlingskrise wurde dies besonders deutlich: „Wir“ müssen geschützt werden vor der Überfremdung. Beatrix von Storch, die später stellvertretende Bundessprecherin der AfD wurde, twitterte in diesem Zusammenhang 2018, bei den Migranten handle es sich um „barbarische, muslimische, gruppenvergewaltigende Männerhorden“. Die AfD verschiebt immer mehr die Grenzen des Sagbaren.
Wörter sind in der Lage, Realitäten abzubilden und zu hinterfragen. Sprache ist ein Instrument der Macht und eine Waffe, Worte können ausgrenzen und verletzen. Sigmund Freud hat die „Macht der Worte“ beschrieben, die Gefühle hervorrufen, geistige Einstellungen schaffen und vertiefen. Wenn Sprache Hass schürt, kann das fatale Auswirkungen haben, dies haben uns die rechtsradikalen und antisemitischen Anschläge der vergangenen Monate dramatisch vor Augen geführt.
Victor Klemperer und nach ihm viele andere haben aufgezeigt, wie eine Sprache des Hasses und der Ausgrenzung den Weg ebnen konnte zu Gewalt, Terror und Massenmord – und dies jederzeit wieder kann.
Gerade wer sich der Macht der Worte bewusst ist, wird bei der Wahl der Begrifflichkeiten vorsichtig sein. Die Gruppen, die sich in den vergangenen Monaten auf Demonstrationen gegen die Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung der Corona-Pandemie zusammengefunden haben, sind nicht ausnahmslos „Nazis“ oder „Faschisten“, wie mitunter zu lesen ist. Die sogenannten „Querdenker“ sind ein diffuses Konglomerat von Verschwörungstheoretikern, Wirklichkeitsverleugnern, schrägen Esoterikern, geschichtsvergessenen Ignoranten, die eine Gelegenheit ergreifen, gegen die „da oben“ zu demonstrieren. Und dazwischen marschieren besorgte Bürgerinnen und Bürger, denen die Eingriffe des Staates zu weit gehen, aber auch Rechtsradikale, die ein neues Forum für ihre fremdenfeindlichen und antisemitischen Hassparolen gefunden haben. Die Verbindungen zwischen „Querdenkern“ und Rechtsradikalen sind jedenfalls so eng, dass in Baden-Württemberg der Verfassungsschutz nun „Querdenken-711“ beobachtet. Und die unsäglichen historischen Vergleiche der „Querdenker“, die ihre Situation mit derjenigen von Anne Frank oder allgemeiner der verfolgten Juden in Beziehung setzen, finden ihre traurige Parallele in der Banalisierung der NS-Verbrechen durch AfD-Mitglieder. Erinnert sei an Gaulands Formulierung, Hitler und der Nationalsozialismus seien nur ein „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte gewesen.
Dennoch: Wir brauchen mehr Nuancen, um eine komplizierte soziale Wirklichkeit, in der für viele Menschen Gewissheiten zerbrechen, sprachlich zu erfassen. „Faschisten“ und „Nazis“ – das sind Kampfbegriffe, die oft aus einer verständlichen Empörung heraus genutzt werden, sich aber nicht mehr steigern lassen. Wir sollten sie nicht beliebig und inflationär anwenden, damit sie nichts von ihrer sprachlichen Kraft einbüßen, aber auch, um nicht selbst durch Sprache auszugrenzen. Die durch diese Begriffe vorgenommene Klassifizierung ganzer Gruppen verstellt die Möglichkeit des Dialogs mit denen, die dazu vielleicht noch offen sind.
Jemand, der derart eindeutig kategorisiert wird, steht auf der falschen Seite, daran gibt es nichts zu rütteln: Mit Nazis reden macht keinen Sinn, also lassen wir das gleich. Es ist sicherlich einfacher, den Dialog von vornherein als aussichtslos zu betrachten, als in mühevollen Gesprächen zu Menschen durchzudringen, genau hinzusehen und verstehen zu wollen, was die diffusen Gefühle auslöst, die sie auf diese Demonstrationen treibt – oder zu Wählern der AfD werden lässt.
Hinzu kommt, dass die Rücksichtslosigkeit vieler Demonstrierender in den vergangenen Monaten Menschenleben gefährdet hat. Und verwirken diejenigen, die mit überzeugten Rechtsradikalen und Antisemiten gemeinsam auf die Straße gehen, ohne sich in irgendeiner Form von deren Ansichten zu distanzieren, nicht ihr Recht auf Verständnis?
Dennoch: Wir müssen wieder wegkommen von einem zunehmend aggressiven Ton und unsere Worte mit Bedacht wählen. Dann können wir auch mutig das Wort ergreifen und einschreiten gegen Shitstorms und Hate Speech im Internet, die auch durch ihre große Reichweite so enorm verletzen können. Das Wort ergreifen für die Demokratie, für Integration und Versöhnung ist in diesen Zeiten, in denen deutsche Parlamentarier vom rechten Rand aus offen zur Ausgrenzung aufrufen, in denen Rechtsextreme lauter, aggressiver und gewalttätiger werden und ein Klima geschaffen haben, in dem ein Politiker vor seinem Haus erschossen wird, nötiger denn je.
Kurt Tucholsky hat einmal geschrieben: „Die Sprache ist eine Waffe, haltet sie scharf.“ Er meinte dies durchaus positiv. Halten wir diese mächtige Waffe also scharf und nutzen wir sie gegen Rechtspopulisten und Gegner unserer Demokratie! Doch machen wir uns zugleich stets bewusst, dass Sprache Dialog, Verständnis und Versöhnung schaffen kann und sollte. Demokraten dürfen die Deutungshoheit in dieser großen Krise nicht denen überlassen, die etwa das Infektionsschutzgesetz mit dem Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten gleichsetzen und damit den Beginn einer neuen deutschen Diktatur propagieren und versuchen, die Demokratie auszuhöhlen.
Das notwendige sprachliche Dagegenhalten sollte zugleich ein Gesprächsangebot an diejenigen enthalten, die dafür noch offen sind, die Unentschiedenen, die Ratlosen. Diejenigen, die in dieser Krise ihre Sorgen und Ängste um die Zukunft gehört wissen möchten, dürfen wir nicht an die Rechtspopulisten verlieren. Und hier sind die regierenden Politiker der demokratischen Parteien in der Pflicht, Sprache als Instrument der Aufklärung einzusetzen und den Bürgerinnen und Bürgern viel genauer zu erklären, was gerade warum notwendig ist, sei es in Bezug auf Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, sei es in Fragen der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen. Der Eindruck, dass die „da oben“ über die Köpfe der Menschen hinweg nicht nachvollziehbare Entscheidungen treffen, treibt manche allzu leicht den Gegnern der Demokratie in die Arme. Politische Entscheidungen, insbesondere Einschränkungen, müssen klar und deutlich erklärt werden, damit die Menschen sie akzeptieren. Das ist anstrengend, kostet Zeit und Energie. Komplexe Zusammenhänge verständlich darzustellen, ist eine besondere Herausforderung. Doch dürfen Politiker, dürfen aber auch wir alle, die einstehen für die Demokratie, diese komplizierten Themen nicht den Populisten überlassen, die es mit ihren Schwarz-Weiß-Erklärungen erheblich leichter haben. Es ist unsere politische Verantwortung, selbst den Ton zu setzen. Nuanciert, aber bestimmt.