Nach Stuttgart: Krawalle, Ursachen und die Unterschiede zu den USA
Nach Stuttgart: Krawalle, Ursachen und die Unterschiede zu den USA
Die Gewalt in Stuttgart ist auch das Ergebnis einer immer weiter sinkenden Hemmschwelle. Es wirkt fast hilflos, wenn Politiker jetzt wieder das Gewaltmonopol des Staates betonen. Damit erreichen sie Teile der Bevölkerung gar nicht mehr: Der rechte Rand wie auch Linksextremisten kämpfen – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven – gegen den Staat und seine Ordnungsmacht. Und auch vor Stuttgart haben mir Beamte immer wieder berichtet, bei jungen Einwanderern verbreite sich eine gefährliche Haltung: „Ihr habt uns gar nichts zu verbieten.“
All das fällt nicht vom Himmel. Den Mut zu solchen Übergriffen haben kleine Gruppen nur, wenn die große Mehrheit der Gesellschaft es zulässt. Natürlich gibt es auch bei der Polizei Fehler, gewaltsame Übergriffe durch Beamte gegen Demonstranten kommen vor, und sie müssen angezeigt und gerichtlich geahndet werden. Doch in der Summe und der Schwere der Taten sind sie nicht zu vergleichen mit den Angriffen auf Leib und Leben von Polizeibeamten, die zum Beispiel in der linksextremistischen Szene längst etabliert sind.
Es gibt durchaus auch geistige Brandstifter. Die Tageszeitung setzt in einer Kolumne Polizeibeamte auf eine Stufe mit Müll. Eine Grenzüberschreitung, aber beileibe nicht der erste Versuch der taz, linksextremistisches Gedankengut salonfähig zu machen. Da hilft es auch wenig, es hinterher zur Satire zu erklären.
Aber auch an der Spitze ehemaliger Volksparteien passieren verbale Entgleisungen: Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken schreibt nach der Tötung eines Schwarzen durch einen Polizisten in den USA vom „latenten Rassismus in der deutschen Polizei“.
Sind die jüngsten Fälle von Tötungen bei misslungenen Festnahmeaktionen in den USA wirklich mit der Situation bei der deutschen Polizei gleichzusetzen? Natürlich gibt es auch unter deutschen Polizisten Fälle von Fremdenfeindlichkeit und auch rassistische Einstellungen. Ein Vorfall während der Krawalle von Stuttgart wird nach der Veröffentlichung des Audiomitschnitts eines Beamten gerade untersucht. Aber das Etikett vom „latenten Rassismus“ ist ein Generalverdacht gegen die Polizei. Immerhin: Beim Besuch einer Polizeischule in Niedersachsen hat die SPD-Vorsitzende den Begriff so nicht mehr wiederholt, sprach laut einem Zeitungsbericht lieber von „schwierigen Tendenzen“. Warum hat sie nicht gleich von Einzelfällen gesprochen, aus denen man nicht auf die gesamte Polizei schließen dürfe? Was sollen Polizeibeamte, die jeden Tag irgendwo im Land beleidigt, bedroht oder angegriffen werden, daraus für Schlüsse ziehen?
Wer mit Ermittlern und Streifenbeamten spricht, trifft häufig auf eine Mischung aus Wut und Frustration. Mitleid wollen die Beamten nicht, aber eine faire Debatte in der Gesellschaft und auch eine faire Berichterstattung in den Medien. Das ist keineswegs immer garantiert. Während des G20-Gipfels in Hamburg 2017 kam es zu einer gewaltsamen Auflösung einer unangemeldeten Demonstration durch die Bereitschaftspolizei. Die Beamten gingen dabei mit großer Härte vor, rannten auch junge Demonstranten im hinteren Teil des Zuges einfach über den Haufen, es gab unter den Teilnehmern viele Verletzte. Ein Video des Vorfalls bewertete die Süddeutsche Zeitung unter dem Titel „Drei Bengalos reichten für die Polizeiattacke“ so: „Im Einsatzbericht der Polizei steht, der Schwarze Block habe mit Steinen und Flaschen geworfen. Auf dem Video ist davon nichts zu sehen.“ Hätte der Autor das Video genauer geprüft, hätte er eindeutig sehen können, dass aus dem vorderen Teil des Aufzugs sehr wohl mehrere Pflastersteine Richtung Polizei flogen. Die Berichterstattung im Spiegel und in der ARD stellte das anschließend richtig.
Polizeibeamte registrieren sofort, wenn der Rückhalt aus der Mitte der Gesellschaft schwindet und es zu einseitigen Darstellungen in den Medien kommt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mahnte nach den Vorfällen in Stuttgart:
„Wer Polizistinnen und Polizisten angreift, wer sie verächtlich macht oder den Eindruck erweckt, sie gehörten ‚entsorgt‘, dem müssen wir uns entschieden entgegenstellen.“
Ob der Appell diesmal zu einem Umdenken führt? Es wäre uns allen zu wünschen. Sonst ist vielleicht der Tag nicht mehr so fern, dass niemand mehr Polizistin oder Polizist werden möchte.
Teile dieses Textes erschienen am 22.6.2020 in einem Fernsehkommentar der ARD-Tagesthemen und wurden in sozialen Netzwerken kontrovers diskutiert.