Kissingers Sprache der Macht gegen Brandts Gegenentwurf. Ein Rückblick aus aktuellem Anlass
Kissingers Sprache der Macht gegen Brandts Gegenentwurf. Ein Rückblick aus aktuellem Anlass
Was macht eine Ordnungsmacht, wenn ihr die Ordnung entgleitet? Was bedeutet der Verlust von Macht und Einfluss? Wo ist Amerikas Platz in einer multipolaren Welt? Ist es ratsam, sich dem Wandel entgegenzustellen, ihn gar aufhalten zu wollen? Was will und kann man erreichen, mit welchen Mitteln und an wessen Seite?
Derlei Fragen standen in den USA bereits Ende der 1960er-Jahre auf der Tagesordnung. Die von Präsident Richard Nixon erdachten und von seinem Sicherheitsberater Henry Kissinger verkauften Antworten sind, obwohl den Umständen und Nöten ihrer Zeit geschuldet, noch immer aktuell – weil sie einer Vergangenheit entstammen, die offenbar nicht vergehen will. Einerseits. Und weil andererseits schon damals ein europäischer Gegenentwurf vorgelegt wurde, der in der Unübersichtlichkeit der heutigen Zeit noch immer als Kompass dienen kann.
Henry Kissingers viel zitierte Realpolitik war bei Lichte besehen eine Litanei in drei Akten – protokolliert in ungezählten Denkschriften und Vorträgen, festgehalten auf 4000 Stunden Tonbandmaterial von Diskussionen im Oval Office und vorgetragen in ermüdender Eintönigkeit. Erstens: „America First“. Amerikas Vorherrschaft ist unverzichtbar, Stabilität ist gleichbedeutend mit amerikanischem Übergewicht. Und wer die Welt für jene ordnet, die im Gebrauch der Macht nicht geübt sind, und vor jenen schützt, die mit Macht Missbrauch betreiben, hat selbstverständlich das Recht zu Alleingängen. Zweitens: Eine Führungsmacht braucht den Willen zur Gewalt. Politische Sicherheit und militärisches Risiko sind zwei Seiten einer Medaille, eine Ordnungsmacht, deren Gewaltbereitschaft in Frage steht, verspielt ihre Glaubwürdigkeit. Diplomaten sichern Frieden nur dann, wenn sie das Handwerk der Nötigung beherrschen. In anderen Worten: Außenpolitik muss vom Militärischen ausgehend gedacht werden, ansonsten verfehlt sie ihren Zweck. Drittens: Macht beruht auf Angst. Niemand soll dem Irrglauben aufsitzen, auf der militärischen Eskalationsleiter mit den USA mithalten zu können, Risiken werden reduziert, sobald andere mehr Angst vor dem Krieg haben als man selbst. Sicherheit auf der einen Seite steht und fällt mit Unsicherheit auf der anderen Seite, Unberechenbarkeit muss kalkuliert eingesetzt werden.
Diese Dogmen hingen seit 1969 wie Bleigewichte an Amerikas Außenpolitik. Gegenüber der Dritten Welt, wo jede noch so geringfügige Unruhe durch die Brille der Systemkonkurrenz gesehen und einzig danach beurteilt wurde, ob sie der UdSSR nutzte oder irgendwann nutzen könnte. Gegenüber der Sowjetunion und der VR China, die man zum einseitigen Vorteil der USA gegeneinander ausspielen wollte. Gegenüber Verbündeten, die zur Ordnung gerufen wurden, sobald sie Zweifel an militärisch grundierten Ordnungsmodellen vortrugen und über eine neue Sicherheitsarchitektur nachdachten.
So gesehen steht Henry Kissingers vielzitierte Realpolitik für den Versuch, die Realität zurechtzubiegen, bis sie wieder ins Korsett eherner Vorgaben passte. Ein Schelm, wer Anklänge an Heutiges herausliest oder gar Parallelen zu erkennen glaubt.
Von allen zeitgenössischen Kritikern war in Washington einer ausgesprochen verhasst: der bundesdeutsche Kanzler Willy Brandt. Abseits des diplomatischen Parketts redeten sich Nixon und Kissinger in Rage über den „gefährlichen Dummkopf“ Brandt, vor dem Misstrauensvotum im Bundestag im April 1972 dachten sie laut über eine klammheimliche Unterstützung des christdemokratischen Gegenkandidaten Rainer Barzel nach, Anfang 1973 wünschte Kissinger, vom Präsidenten wieder einmal auf den „Trottel“ in Bonn angesprochen, dem deutschen Kanzler gar den Tod an den Hals. Noch Jahre nach dem Abschied aus dem Amt ereiferte sich Kissinger über die „revolutionären Schlussfolgerungen“, zu denen sich Brandt seines Erachtens verstiegen hatte.
In der Tat. Die damalige Bonner Außenpolitik wurde von Willy Brandt auf die Höhe ihrer Zeit gebracht, um die Perspektive auf eine andere Zeit zu öffnen. Ausgangspunkt war eine Abwertung des Militärischen und die Verabschiedung der Idee, dass Rüstung ein Gradmesser von Glaubwürdigkeit oder ein geeignetes Mittel zur Zähmung von Konkurrenten sei. Weg von einem Denken, das auf die Macht des Stärkeren und die Effizienz von Drohgebärden setzt, hin zu einer Zivilisierung von Konflikten im Inneren wie im Äußeren – darum ging es. Womit im Umkehrschluss gesagt war, dass Kooperation nur funktionieren kann, wenn hinreichend Vertrauen vorhanden ist. Und wenn man wie jeder gute Unternehmer bereit ist, einen Vorschuss auf die Zukunft zu investieren – in der Hoffnung, aber eben nicht in der Gewissheit, dass die Investition Gewinne abwerfen wird. Die Gleichsetzung von Vertrauensbildung und Gefühlsduseligkeit, von Kissinger lauthals beklagt, greift ins Leere. Brandt wusste sehr wohl, mit wem er es in Moskau zu tun hatte. Umso mehr betonte er das politische und normative Fundament von Vertrauen, nämlich die Einsicht, dass es Sicherheit in allen großen Fragen nicht mehr voreinander, sondern nur noch miteinander geben kann – und dass es nicht auf das Durchsetzen, sondern auf den Ausgleich von Interessen ankommt.
In diesem Sinne war die bundesdeutsche Entspannungspolitik eine Art Unabhängigkeitserklärung gegenüber der westlichen Hegemonialmacht, ohne die Westbindung zu kappen – eine Veränderung des Status quo bei gleichzeitiger Anerkennung seines ideellen Sockels. Statt die Sprache der Macht wiederzukäuen, wurde eine Grammatik des Vertrauens gelernt. Das war der Kern selbständiger Ostpolitik, deshalb musste man vor der politischen Gewichtszunahme der Bundesrepublik keine Angst mehr haben. Wer heute – durchaus zu Recht – mehr deutsche Verantwortung in außen- und sicherheitspolitischen Belangen fordert, ist also mit dem Vermächtnis Willy Brandts ungleich besser bedient als mit den antiquierten Idee Henry Kissingers.