Als Korrespondent in der Hauptstadt der DDR: Über meine Begegnungen mit Stefan Heym. Ein Vorabdruck
Als Korrespondent in der Hauptstadt der DDR: Über meine Begegnungen mit Stefan Heym. Ein Vorabdruck
Kurz nach unserem offiziellen Empfang als neue Korrespondenten in Berlin-Ost lud mich Stefan Heym ein. Mein Auto könne ich auf dem Weg hinter seinem Haus parken. Ich machte mich auf nach Grünau. Das Kennzeichen QA 57 meines Autos wies mich als westdeutschen Korrespondenten aus. So waren meine Wege gut zu verfolgen, auch nachträglich. DDR-Korrespondenten erging es in der Bundesrepublik ähnlich. Auf der Fahrt zu Heym wurde ich nicht verfolgt. Ich wurde erwartet. Hinter dem Haus stand ein unauffälliger Lada. „So zeigt mir die Staatssicherheit seit Wochen ihre Wertschätzung“, klärte mich Stefan Heym auf.
Im Garten war bereits ein Tisch mit Kaffee und Kuchen gedeckt. Stefan Heym hatte eine Schwäche für die Sowjetunion. Insofern kam ich ihm mit meiner Moskauerfahrung als Gesprächspartner gelegen. In seinen Memoiren mit dem vielsagenden Titel Nachruf ist zu lesen, was den deutschen Autor Heym mit den Sowjets verband. Für ihn waren sie Waffenbrüder. So sah ihn umgekehrt auch die Redaktionsleitung der sowjetischen Besatzungszeitung Tägliche Rundschau, für die er gleich nach seiner Ankunft in Ost-Berlin Beiträge schrieb. Chefredakteur Sokolow und sein Stellvertreter Bernikow behandelten Heym wie einen Kriegskameraden, der auf der amerikanischen Seite gegen Hitler-Deutschland gekämpft hatte. „Ihre Deutschen“ Walter Ulbricht und den Schriftsteller Willi Bredel hielten sie hingegen auf Distanz, erinnerte sich Heym mit Genugtuung.
Stefan Heym traute mir einen guten Draht zu Sowjetführer Breschnew zu. Ich musste bekennen, über einen solchen Draht nicht zu verfügen. Mein Gegenüber zeigte sich leicht enttäuscht. Er hätte mit Breschnew gerne – so mein Eindruck – wie seinerzeit mit Sokolow und Bernikow über seine Vorstellungen von einem modernen Sozialismus gesprochen. Die Westpolitik des Sowjetführers hielt Heym für gescheit. „Auf Verständigung zu setzen, ist ein Zeichen der Vernunft. Konfrontation führt nur zu Wettrüsten. Das kann niemand gegen die USA gewinnen.“ Dem war nicht zu widersprechen, auch nicht der These, dass sich ohne Anstoß aus der Sowjetunion grundsätzlich nichts in der DDR ändern würde.
Hatte Heym schon einen Gorbatschow vor Augen? Sicher nicht! Selbst die kühnsten Kreml-Astrologen hatten nicht die leiseste Vorstellung, dass bereits in wenigen Jahren ein Erlösertyp vom Format Gorbatschow die Verhältnisse in der Welt völlig verändern würde. Inge Heym sorgte mit trockenen Zwischenbemerkungen dafür, dass wir uns auf unseren politischen Höhenflügen nicht zu sehr von der Wirklichkeit entfernten. Wir sprachen ausgiebig über neue Bücher und neue Filme in Ost und West. Über seine Buchprojekte sprach Heym wohlweislich nicht. Er wusste ja, wer mithörte.
Es war ein unterhaltsamer Nachmittag, der dem Mann im Lada offensichtlich zu lange dauerte, denn er war weg, als ich mich auf den Weg nach Hause machte. Es lohnte sich, bei den Heyms vorbeizuschauen. Sie waren gastfreundliche Leute. Wir trafen bei ihnen viele interessante Menschen aus der Kulturszene. Leider wurden es mit der Zeit immer weniger. Prominente Künstler wie der Schriftsteller Jurek Becker, die Dichterin Sarah Kirsch, der Schauspieler Armin Müller-Stahl und der Schriftsteller Klaus Poche sahen sich nach bösen Schikanen gezwungen, ihren ungastlichen Staat zu verlassen, wie es vorher schon der Schauspieler Manfred Krug getan hatte.
Doch Heyms Freundeskreis blieb stattlich groß. So bekam ich wertvolle Einblicke in das Gemeinwesen DDR, allerdings aus eher kritischem Blickwinkel. Ein wenig fühlte ich mich an Kopelews Wohnung in der Krasnaja Armejskaja erinnert. Lutz Lehmann und ich waren bei den Heyms oft zu Besuch. Im Winter sind wir sogar auf Skiern durch die tief verschneite Stadt von Berlin-Mitte bis Grünau gelaufen. Eine gute Vorbereitung für unseren Trip über den Rennsteig im Thüringer Wald. Heym fand, wir sahen wie dampfende Rösser aus, als wir verschwitzt an seinem Haus ankamen.
Im ausgehenden Winter entdeckte Stefan Heym beim Verlassen des Hauses ein Notizbuch, eher ein Schulheft, im Schnee. Er nahm es an sich und gab es später bei einem meiner Besuche an mich weiter, damit ich es zur Aufbewahrung für andere Zeiten zu seinem Anwalt nach West-Berlin brachte. Was in dem Heft notiert war, lohnte der Aufbewahrung. Stefan Heym hielt den Inhalt in seinen Nachruf-Memoiren fest, die 1988 im westdeutschen Bertelsmann Verlag erschienen.
Noch gab es 1988 die DDR, noch gab es den Staatssicherheitsdienst. Dass es schon in einem Jahr vorbei sein sollte mit der Mauer und der Allmacht der Stasi, davon hatten wir seinerzeit keinen blassen Schimmer, obwohl es im sozialistischen Lager – insbesondere in Polen – schon kräftig rumorte. Das vor dem Hause Heym gefundene Schulheft enthielt, man ahnt es, die Notizen eines der pflichtbewussten Männer, die im Auftrag der Staatssicherheit das Haus Nummer neun in der Rabindranath-Tagore-Straße und seine Insassen wochenlang beobachtet hatten.
Was hatte das Observationsprotokoll zu bieten? Auf den ersten Blick drei Passbilder! Die Fotos zeigten Inge und Stefan Heym sowie den Schriftsteller Klaus Poche, einen engen Freund der beiden. Als Aufgabenstellung wurde „lose, konspirative Beobachtung“ genannt. Die Observation sollte sich auf Stefan Heym konzentrieren, der unter dem Code „Grün“ geführt wurde. Bei Besuchern gab sich das MfS mit den Pkw-Kennzeichen zufrieden.
Die Stasi nahm ihren Auftrag sehr ernst. Wohin sich Heym bewegte, Mielkes Leute waren dicht an ihm dran. Zu Fuß, per Auto oder Straßenbahn. Ein sagenhafter Aufwand! Die drögen Einträge „gaben Aufschluss über jene Zeit und jenes Land“, so Heym in seinen Memoiren. Dem Ministerium für Staatssicherheit schrieb er zum Schluss ins Stammbuch: Eine Geheimpolizei, die Buch führe über Mülltonnenbesuche und Schreibfehler auf dem Postamt und zum Schluss auch noch ihre Kladde verliere, wirke fast schon sympathisch. Sie gehöre allerdings eher ins Kasperletheater als vor das Haus eines Schriftstellers.
Wenn das der allmächtige Stasichef Mielke gelesen haben sollte, dann wird ihn das nicht erfreut haben. 1988 dürfte er allerdings ganz andere Sorgen gehabt haben. Von der Selbstsicherheit des SED-Regimes früherer Jahre war wenig geblieben. 1977, als der Stasi das Malheur in der Rabindranath-Tagore-Straße passierte, hatte sie das Land noch fest im Griff. Es war die Zeit, als sich das SED-Regime samt seiner Staatssicherheit sicher im Sattel fühlte. Aus seiner Sicht hatte sich der sozialistische Staat mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann und der Ausweisung von Lothar Loewe prominente Regimegegner ein für alle Mal vom Hals geschafft und dauerhaft für Ruhe gesorgt. Der mächtige Westen konnte nur ohnmächtig zuschauen. Nach dieser Erkenntnis wurde der Kurs des harten Durchgreifens mit unsinnigen Maßnahmen fortgesetzt.
Herausragende und von der Bevölkerung verehrte Künstlerinnen und Künstler sahen für sich keine Zukunft mehr in der DDR. Sie stellten die Verantwortlichen vor die Alternative: entweder Ende der Maßregelungen oder Erlaubnis zur Ausreise in den Westen. Der sozialistische Staat ließ sie lieber ziehen oder zwang sie hinaus. Politisch und kulturell ein Irrsinn, auch ökonomisch! Eine Kultur mit Protagonisten von Weltklasse hätte nicht nur für ein starkes Image gesorgt, sondern auch über Veranstaltungen, Publikationen und Kooperationen Devisen ins Land gebracht, die so dringend gebraucht wurden. Nicht nur das!
Die DDR sehnte sich nach internationaler Anerkennung, aber entledigte sich ihrer besten Köpfe. Ost-Berlin wäre zu einer Kulturattraktion der Welt geworden, wenn Stars wie Jurek Becker, Frank Beyer, Wolf Biermann, Angelica Domröse, Jutta Hoffmann, Egon Günter, Sarah Kirsch, Manfred Krug, Günter Kunert, Armin Mueller-Stahl und Klaus Poche nicht vergrault, sondern entsprechend ihren Fähigkeiten gefördert worden wären.
Als führende Köpfe der Kunstszene hätten sie zusammen mit Günter de Bruyn, Bernhard Heisig, Franz Fühmann, Robert Havemann, Stefan Heym, Monika Maron, Wolfgang Mattheuer, Kurt Masur, Heiner Müller, Werner Tübke, Christa Wolf und Konrad Wolf eine Kulturelite gebildet, die sich mit der des politischen Rivalen Bundesrepublik Deutschland gut und gerne hätte messen können. Das waren die Träumereien von Lutz Lehmann und mir, wenn wir abends in der Paris Bar in der Kantstraße beim Wein zusammensaßen. Gedankenspielereien! Bezeichnend, vom friedlichen Mauerfall wagten wir nicht zu träumen. Inzwischen schaffte es der Staatssicherheitdienst, die DDR mit seinem Gift zu durchtränken und auf das Niveau eines bissigen Zwergstaats zu bringen.