Die schockierenden Ereignisse in Afghanistan und das unermessliche Leid der Zivilbevölkerung bewegen uns alle. Wir sehen eine unerträgliche humanitäre Tragödie und müssen bekennen, dass es trotz aller Bemühungen und Teilerfolge nicht gelungen ist, dem Land zu der politischen Stabilität zu verhelfen, nach der sich die Menschen so sehr sehnen. Die Bundesregierung, aber auch unsere Verbündeten mussten ihre Lageeinschätzung revidieren. Die berechtigte Selbstkritik muss uns neben der dringend notwendigen Akuthilfe und Krisenintervention Mahnung sein, unsere Handlungsfähigkeit kritisch zu überprüfen und uns strukturell einer veränderten globalen Sicherheitslage anzupassen, in der wir dazu in der Lage sein müssen, unsere Interessen auch in kritischen Lagen wahrzunehmen und selbstbewusst zu formulieren.
Zunächst gilt es, schnellstens alles Menschenmögliche zu tun, den Schaden zu begrenzen. Angesichts der unübersichtlichen Lage in Afghanistan und der dramatischen Szenen am Kabuler Flughafen bleibt nun keine Zeit für aufwändige Verfahrensfragen und Bürokratie. In Abstimmung mit unseren internationalen Partnern geht es um möglichst viele Abflüge vom Flughafen Kabul in sichere Drittstaaten. Statt strenger Formalia müssen wir jetzt mit großem Herzen und Augenmaß alle evakuieren, die für uns gearbeitet haben, deswegen besonders gefährdet sind und ihr Land verlassen wollen. Die Bundeswehr konnte inzwischen mit dem Aufbau der Luftbrücke beginnen. Für diesen hochriskanten Einsatz gebührt den beteiligten Einsatzkräften unser Dank und Anerkennung.
Mandatsverlängerungen aufwerten
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer liegt völlig richtig, die bestehenden Auslandseinsätze der Bundeswehr dahingehend zu untersuchen, ob sie zur Erfüllung ihres Auftrags angepasst werden müssen. Noch konsequenter wäre es, die regelmäßig notwendigen Mandatsverlängerungen durch den Deutschen Bundestag bewusst strukturell aufzuwerten. Eine jährlich geführte öffentliche Sicherheitsdebatte im Plenum sollte mit einem Evaluierungsbericht verbunden werden. Dies sollte nicht nur zur Verlängerung, sondern auch zur kritischen Überprüfung der zugrundeliegenden außen- und sicherheitspolitischen Strategie und der sich daraus ergebenden Anforderungen dienen. Ein solcher Prüfstein würde zudem mehr Transparenz schaffen, die Sicherheitspolitik in die Mitte der Gesellschaft holen und somit einen Beitrag zur Weiterentwicklung unserer strategischen Kultur leisten.
Das „Nebeneinanderher“ der Bundesressorts in puncto Sicherheit ist nicht mehr zeitgemäß. Deutschlands Strategiefähigkeit und Krisenwiderstandskraft sind der neuen Lage anzupassen. Afghanistan zeigt: Wir hätten eine umfassende Szenarienplanung mit Notfallplan gebraucht. Die vergangenen Tage haben mich nochmals in meiner Auffassung bestärkt, dass wir einen aufgewerteten Bundessicherheitsrat im Bundeskanzleramt brauchen, der wissenschaftsbasiert Szenarien entwickeln und Entscheidungen vorbereiten kann. Der BSR kann mit entsprechendem Unterbau und Expertenwissen aus den Bundesressorts optimal zu einem Vorbereitungs- und Koordinierungsgremium strategischer Entscheidungen der Bundesregierung ausgebaut werden. Er muss sich zur Aufgabe machen, langfristige Interessen zu definieren, die Ressortaktivitäten zu koordinieren, Trendanalysen und strategische Vorschau zu betreiben und schließlich regelmäßige Evaluierungen vornehmen, die gegebenenfalls notwendige Kurskorrekturen ermöglichen. Insofern ist es ein wichtiger Fortschritt, dass mein seit langem unterbreiteter Vorschlag Einzug in das Wahlprogramm der Union für die anstehende Bundestagswahl gefunden hat.
Ausstattung der Truppe
Nun gilt es, den Blick nach vorne zu richten. Wenn die bestehenden Bundeswehrmandate überprüft werden, wird man zum Ergebnis kommen, dass es in Zukunft weder weniger noch gar keine Bundeswehreinsätze mehr brauchen wird. Im Gegenteil, man wird eine Debatte darüber führen müssen, wie eine bestmögliche Ausstattung der Truppe aussehen kann. Deutschland kann es sich heute nicht mehr leisten, als Status-quo-Macht zu agieren. Angesichts einer sich rapide wandelnden globalen Sicherheitsarchitektur erwarten unsere internationalen Partner heute von uns, dass wir einen angemessenen Beitrag zur Wahrung der regelbasierten internationalen Ordnung leisten. Ein angemessenes Mandat muss daher nicht nur unseren Soldaten den bestmöglichen Schutz gewähren, sondern auch unsere Partner mit unter den Schutzschirm nehmen. Der Bundestag wird zeitnah eine Regelung finden müssen, um zum Eigenschutz der eingesetzten Soldaten auch bewaffnete Drohnen einsetzen zu können.
Auslandseinsätze sollten ausschließlich durchgeführt werden, wenn sie deutschen Interessen dienen. Die Formulierung dieser Interessen könnte einem aufgewerteten Bundessicherheitsrat zufallen.
Wenn dieser Tage die schnellstmögliche Evakuierung deutscher Staatsbürger und afghanischer Ortskräfte erfolgt, dient dies zweifellos deutschen Interessen. Erfolgreiche Auslandseinsätze setzen auch die Zusammenarbeit mit Ortskräften voraus, denen eine wichtige Brückenfunktion zukommt. Wir brauchen daher künftig stichhaltige Schutzkonzepte für Notfallszenarien. Andernfalls droht uns ein Glaubwürdigkeitsverlust.
Was es bedeutet, eigene Interessen durchzusetzen
Wir müssen damit rechnen, dass die Taliban nur eine mit entsprechender militärischer Glaubwürdigkeit verbundene Präsenz akzeptieren werden, die auch die Bereitschaft umfasst, die eigenen Interessen im äußersten Fall mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Realistisch gesprochen kann dies einen Aufwand von mehreren tausend Soldaten, die sehr kurzfristig bereitgestellt werden müssen, umfassen. Ebenso bräuchte es dafür eine robuste Bewaffnung und die Mandatierung der entsprechenden Einsatzregelungen. Der Mandatsantrag der Bundesregierung erscheint in diesem Kontext noch vergleichsweise zurückhaltend formuliert: Eine schnellstmögliche und breite Unterstützung im Bundestag soll und muss sichergestellt werden.
Die Opposition muss nun aber Farbe bekennen. Eine „sichere und umfassende Luftbrücke nach Kabul“, die derzeit in aller Munde ist, ist ohne robustes Einsatzmandat nicht möglich. Man stelle sich nur einmal vor, welche Bedrohungsszenarien sich eröffnen, wenn die Evakuierungsflüge ohne entsprechenden Begleitschutz Lufträume passieren, die derzeit von den Taliban kontrolliert werden.
Wir müssen nun international unter der Ägide der UNO beraten, ob in den Nachbarstaaten Afghanistans schnellstmöglich Aufnahmezentren für afghanische Flüchtlinge geschaffen werden können. Um solche Aufnahmezentren zu schaffen, die vielleicht von der UNO geleitet und von der EU finanziert werden, müssen wir unter anderem mit dem Iran, Irak, Usbekistan, Pakistan und der Türkei reden. Dazu braucht es ohne Zweifel ein europäisch und transatlantisch abgestimmtes Vorgehen. Da wir eine größere Zahl von Flüchtlingen nicht ausschließen dürfen, brauchen die Nachbarländer gezielte Unterstützung, um eine humanitäre Katastrophe abzuwenden. Selbstverständlich braucht es auch Antworten auf die Frage, wie wir die im Land verbleibenden Menschen humanitär unterstützen können, ohne dass die Taliban davon profitieren. Wir stehen hier vor einer großen Herausforderung, die uns noch viele Jahre beschäftigen wird.