Dialektik der Säkularisierung

Eine Gesellschaft ohne Religion? Lieber nicht

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PICTURE ALLIANCE/GEISLER-FOTOPRESS
An die Gemeinde: Gregor Gysi
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An die Gemeinde: Gregor Gysi

Dialektik der Säkularisierung

Eine Gesellschaft ohne Religion? Lieber nicht

Es gibt Menschen, die nicht religiös sind. Davon zu unterscheiden sind Menschen, die „irgendwie“ religiös sind, ohne einem konkreten Glaubensbekenntnis zugehörig zu sein. Dafür wird häufig auch der Begriff der Spiritualität gewählt.

Ich gehöre aber schlicht zu jenen, die nicht religiös sind. Aber was mich immer interessiert hat, ist die Frage, ob das, was religiöse Menschen tun, auch einen Wert haben kann für diejenigen, die nicht religiös sind. Ich bejahe diese Frage.

Einer der wichtigsten deutschen Philosophen, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, hat das Problem des Glaubens, des religiösen Bewusstseins in einer aufgeklärten Welt besonders deutlich formuliert. Zwar hatte die Aufklärung die Natur entzaubert, sie stellte sich als Zusammenhang wissenschaftlich erklärbarer Prozesse dar, sie hat auch der staatlichen Macht die Legitimation durch die Macht des Glaubens und der Autoritäten entzogen, aber die Aufklärung hat den Menschen keinen, ich drücke mich jetzt simpel aus, „Ersatz“ für das Verlorene liefern können. Das Verlorene ist die vereinigende Kraft der Religion. Sie ist es, die Gemeinschaft stiftet.

Nun war sich Hegel im Klaren darüber, dass sich die moderne Entwicklung nicht wieder zurückdrängen lässt. Wiederherstellung kann es nicht in einem unmittelbaren Sinn geben. Bei der vergleichenden Betrachtung von Kunst, Religion und Philosophie betonte er, dass es immer um dasselbe ginge: um das Ganze unseres Lebens. Die Kunst drückt dies im Medium des Sinnlichen aus, die Religion bringt dieses Ganze zur Vorstellung, die Philosophie bemüht sich, es auf den Begriff zu bringen. Was auch immer man bevorzugen mag, ob Kunst, Religion oder Philosophie – es handelt sich um Möglichkeiten, das Denken des Ganzen einzuüben.

Wichtig wird das in der politischen Gemeinschaft. Als Staats­bürgerinnen und Staatsbürger bilden wir auch eine Gemeinschaft, der es um ein vernünftiges Ganzes geht: das Gemeinwohl. Zugleich jedoch wissen wir, dass unsere Gesellschaft sich auch dadurch auszeichnet, dass es verschiedene, teilweise auch konträre Interessen gibt. Diese müssen ausformuliert und Konflikte ausgetragen werden. In einem demokratisch verfassten Staat, und hier verlasse ich den Hegelschen Horizont, wird die Idee des Gemeinwohls auf der Basis unterschiedlicher Interessen ausformuliert, in der Regel durch Verhandlung zwischen Interessenträgerinnen und -trägern und ihren Repräsentantinnen und Repräsentanten.

Wenn diese demokratische Auseinandersetzung um den Inhalt des Begriffs Gemeinwohl scheitert oder ausgebremst wird, etwa durch technokratische Herrschaft oder durch populistische Kraftmeierei, dann verliert die politische Gemeinschaft an Substanz. Es wird dann immer mehr Menschen geben, die sich ausgeschlossen, nicht mehr wahrgenommen fühlen. So kommt es zur Krise der Demokratie, und hier setzen auch jene an, die von der Demokratie ohnehin nicht viel halten.

Die Kirchen hatten in den vergangenen Jahrzehnten für die Situation der Abgehängten ein Sensorium entwickelt. Das hängt auch damit zusammen, dass das Christentum Liebe, also Solidarität, predigt. Und da man nicht nur predigen kann, tut man auch etwas für das, was man will. Nicht immer passen mir die politischen Vorstellungen der Kirchen. Das ist auch nicht nötig. Aber sie sind auf der Grundlage einer Ethik aufgebaut, die in unserer Welt zunehmend fehlt.

Sich mit den politischen Vorstellungen religiöser Menschen auseinanderzusetzen, bedeutet oft auch, sich mit der zugrundeliegenden Ethik auseinanderzusetzen. Selbst wenn man sie dann nicht teilt oder wenn man die eine oder andere Doktrin abschwächen oder „besser“, etwa ohne Bezugnahme auf die Religion, begründen will, übt man sich im normativen Argumentieren. In diesem Sinn bin ich als Atheist froh, dass es die Religion und Stellungnahmen religiöser Menschen zu Angelegenheiten von öffentlichem Interesse gibt. Dies auch deshalb, weil es gegenwärtig eigentlich keine andere gesellschaftliche Kraft gibt, die Moral- und Wertvorstellungen allgemeingültig formulieren kann.

Die Linke als gesellschaftliche Kraft hat diesen Anspruch mit der Art und Weise, wie der real existierende Staatssozialismus organisiert wurde, für längere Zeit verwirkt, obwohl sie rein inhaltlich dazu in der Lage wäre. Die Rechte – und damit meine ich jetzt nicht das, was da den Furor gegen die Corona-Maßnahmen auf den Straßen orchestriert – ordnet mindestens tendenziell Wertvorstellungen dem Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft unter. Der Markt aber kann keine Moral- und Wertvorstellungen hervorbringen.

Nun wird mir oft entgegengehalten – gerade auch aus meinen Reihen –, dass doch bei den Kirchen nun auch nicht alles im Lot sei, wie gerade die aktuelle Debatte um sexuellen Missbrauch in der Kirche zeigt. Milliardenschwere Bistümer seien auch nicht unbedingt ein Hort sozialer Gerechtigkeit.

Stimmt, aber Kirche und Religion sind nicht identisch. Man kommt eben auch nicht umhin zu sehen, dass viele religiöse Menschen Moral- und Wertvorstellungen wie die Achtung der Menschenwürde, Solidarität, Barmherzigkeit versuchen, täglich zu leben und zu vermitteln und im besten Sinne zum Gemeingut zu machen. Jesus stand eben den Schwachen zur Seite, und zwar allen Schwachen bis hin zur Mitte, und zwar unabhängig von Hautfarbe und Nationalität. Er versuchte, den Zeitgeist mit der Bergpredigt zu verändern, und kämpfte vor allem für den Frieden.

Wenn man ein gerechteres Land will, das einen humaneren Umgang mit allen pflegt, die hier leben, dann muss man den Willen, die Kraft und auch den Mut haben, sich mit den Mächtigen anzulegen. Denn in der Regel haben diese den Mainstream auf ihrer Seite. Bei diesem Schwimmen gegen den Strom sind Religiöse, aber auch Kirchen und Linke öfter nebeneinander und aufeinander angewiesen, als es beide Seiten manchmal wahrhaben wollen: in der sozialen Frage, beim Umgang mit Flüchtlingen, bei der Friedensfrage.

Die heutige Situation zeichnet sich allerdings durch ein verkomplizierendes Merkmal aus. Religionen spielen wieder eine größere Rolle, nicht zuletzt durch die Migration. Es muss uns gelingen, nicht nur Christinnen und Christen in der politischen Öffentlichkeit eine Stimme zu geben, sondern auch Menschen anderer Religionen. Ausgrenzung darf es nicht geben. Aber es gibt auch keine Pflicht, religiösen Positionen Folge zu leisten. Alle Beteiligten müssen die Bereitschaft zeigen, sich zu begrenzen und sich gegenseitig auszuhalten, sich gegenseitig nicht besiegen zu wollen. Anders wird das Zusammenleben von Menschen verschiedener Kulturen und Religionen in einer Gesellschaft nicht gelingen.

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