Die drohende Infodemie

Radikalisierungsbeschleuniger Verschwörungserzählungen

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SHUTTERSTOCK_MEDIA-WHALESTOCK
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Die drohende Infodemie

Radikalisierungsbeschleuniger Verschwörungserzählungen

Im Februar dieses Jahres warnte die WHO, aufgrund der vielen Falschmeldungen und Verschwörungsmythen rund um Corona drohe eine globale „Infodemie“. Plötzlich waren es nicht mehr nur „einige komische Leute aus dem Internet“, die krude Thesen zu angeblichen Weltherrschaftsplänen und Impfkomplotten verbreiteten. Links zu entsprechenden Beiträgen und Videos tauchten auch in WhatsApp-Familienchats und im Mailverteiler des Kleingartenvereins auf. Viele Menschen fühlten sich von dieser Situation überfordert. „Wie kann es sein, dass Menschen, die ich eigentlich stets für rational und besonnen gehalten habe, plötzlich Derartiges von sich geben?“

Die psychologische Forschung hat sich ausgiebig mit der Frage befasst, welche Faktoren Einfluss darauf haben, dass Menschen an eine große Verschwörung glauben. Eine zentrale Rolle spielt die Wahrnehmung, keine oder nur wenig Kontrolle über die eigenen Lebensumstände zu haben. Studien konnten zeigen, dass Menschen, die einen Kontrollverlust verspüren eher dazu neigen, Muster und Zusammenhänge auch dort zu sehen, wo keine sind. Sie neigen eher dazu, an Verschwörungserzählungen zu glauben.

Der Begriff Kontrollverlust klingt auf den ersten Blick vielleicht ein wenig abstrakt, tatsächlich hat er aber viel mit unserem Alltag zu tun. Das grundsätzliche Gefühl, die Kontrolle über eine Situation zu haben, spielt eine wichtige Rolle für das menschliche Wohlbefinden. Es hat sich sogar gezeigt, dass Menschen bei Elektroschocks weniger Schmerz empfinden, wenn sie das Gefühl haben, die Kontrolle über die Situation zu haben. Kontrollverlust erlebt man in verschiedensten Situationen: Wenn man plötzlich seine Arbeit verliert, der Partner einen ohne Vorwarnung verlässt, man im Flugzeug sitzt oder es einen Terroranschlag gibt, dem man sich hilflos ausgeliefert fühlt. Eine globale Pandemie stellt in vielerlei Hinsicht eine besondere Form des Kontrollverlusts dar.

Zum einen hatten die Maßnahmen zur Pandemieeindämmung radikale Auswirkungen auf das Privatleben der Menschen, zum anderen befeuerten die wirtschaftlichen Auswirkungen natürlich auch Existenzängste. Gleichzeitig hatten viele Menschen das Gefühl, dass auch die Politik mit der Situation überfordert war. Diese Kombination bereitete einen Nährboden, auf dem Verschwörungserzählungen besonders gut sprießen konnten.

In derartigen Situationen versuchen Menschen unterbewusst, als Ausgleich für den empfundenen Kontrollverlust, ein Gefühl der Kontrolle durch psychologische Mechanismen herzustellen.

Der Glaube an Verschwörungserzählungen stellt genauso einen Mechanismus dar. Mitglieder aus dem rechtsextremen Reichsbürgerspektrum berichten immer wieder, dass einschneidende Lebensereignisse, in denen sie einen Kontrollverlust verspürt hätten, Auslöser dafür gewesen seien, sich mit Verschwörungserzählungen zu befassen. Das bedeutet natürlich nicht, dass jeder Mensch, der den Arbeitsplatz verliert oder von seinem Partner verlassen wird, automatisch glaubt, dass Deutschland insgeheim eine Firma sei, die von bösen Mächten gelenkt werde, wie es Reichsbürger tun. Erfahrungsberichte wie diese machen jedoch deutlich, dass der Glaube an Verschwörungserzählungen dem Einzelnen durchaus Halt nach Rückschlägen geben kann, weil derartige Geschichten eine wahrgenommene Ordnung in eine vermeintlich chaotische Welt bringen.

Es gibt eine Vielzahl von Faktoren, die sich auf die individuelle Neigung, an Verschwörungen zu glauben, auswirken können. Viele Menschen neigen dazu, systematisch bei großen Ereignissen davon auszugehen, dass dahinter zwangsläufig eine große Ursache stecken müsse. Dies befeuert gerade bei globalen Großereignissen wie Terroranschlägen immer wieder das Auftreten von Verschwörungserzählungen. Hinzu kommt, dass einige Menschen ein instrumentelles Verhältnis zu Verschwörungserzählungen haben. Wer glaubt, als Teil einer kleinen Wissenselite exklusive Einblicke zu haben, kann sich über andere erheben. Man wird plötzlich Teil einer spektakulären Heldengeschichte, in der man eine der Hauptrollen spielt. Gerade in schwierigen Lebensumständen kann eine derartige Wahrnehmung wichtig für ein positives Selbstbild sein. Das macht es allerdings auch so schwierig, Menschen, die sich in privaten Krisen befinden, davon zu überzeugen, ihre Annahmen zu überdenken.

Die Vorstellung, Verschwörungserzählungen seien „harmlos“, hält sich trotz der Debatten der vergangenen Monate nach wie vor hartnäckig. Das ist brandgefährlich, denn die Realität ist eine andere. Menschen, die an eine große Verschwörung in der Medizin glauben, lassen sich auch bei schwerwiegenden Erkrankungen nicht behandeln. Wer meint, hinter Impfungen stecke ein geheimer Plan, um die Welt zu kontrollieren, lässt sich und seine Kinder nicht impfen. Der Glaube an eine angebliche Verschwörung in der Wissenschaft kann dazu führen, dass Menschen die Existenz des menschengemachten Klimawandels leugnen und Maßnahmen zur Begrenzung der globalen Erwärmung kategorisch ablehnen.

In der rechtsextremen Szene wirken Verschwörungserzählungen als Radikalisierungsbeschleuniger. Erzählungen, in denen ein Konflikt mit einem angeblich übermächtigen äußeren Feind konstruiert wird, stärken das Gruppengefühl. Für die Anhänger wird eine Welt konstruiert, in der es nur die „Guten“, die „Bösen“ und die Mitläufer, sogenannte „Schlafschafe“ gibt, die angeblich nicht in der Lage seien, „selbst zu denken“. Derartige Erzählungen sind der Klebstoff, der Gruppen noch enger zusammenschweißen kann.

Insbesondere Verschwörungserzählungen, die von einer angeblichen Medienverschwörung handeln, haben eine toxische Wirkung auf demokratische Diskurse. Wer meint, bei weiten Teilen der Presselandschaft handele es sich um „Systemmedien“ oder „Lügenpresse“, schenkt Faktenchecks keinen Glauben mehr. Anhänger radikaler Gruppen werden so gegen Kritik von außen immunisiert. Nicht zuletzt werden Verschwörungserzählungen auch dazu genutzt, um Gewalt zu legitimieren. Wer seinen Anhängern glaubhaft macht, dass die komplette Gesellschaft – von Wissenschaft über Presse bis hin zur Politik – durch ein globales Komplott kontrolliert werde, kann im nächsten Schritt viel leichter Terrorakte zur vermeintlichen „Notwehr“ verklären. Hanau, Halle, Christchurch – zahlreiche rechtsextreme Attentäter, die in den vergangenen Jahren gemordet haben, glaubten an Verschwörungserzählungen. Gerade im politischen Bereich sind Verschwörungserzählungen daher keineswegs harmlos.

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