Die ersten 327 Millionen – mit 14

Wie Kinderarmut – und „Kinderreichtum“ die Gesellschaft prägen. Nicht zum Guten

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PICTURE ALLIANCE/ZOONAR | SERGHEI PLATONOV
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PICTURE ALLIANCE/ZOONAR | SERGHEI PLATONOV

Die ersten 327 Millionen – mit 14

Wie Kinderarmut – und „Kinderreichtum“ die Gesellschaft prägen. Nicht zum Guten

Die junge Generation ist sozial tief zerrissen: Während Kinder aus wohlhabenden oder reichen Familien materielle Sicherheit genießen und eine Führungsposition in der globalisierten Wirtschaftswelt erreichen können, bleiben ihren Altersgenossen aus sozial benachteiligten Familien diese Chancen versagt. Während der Covid-19-Pandemie sind die extrem unterschiedlichen Lebenslagen von Kindern aus sozial benachteiligten und aus wohlhabenden Familien vielen Menschen stärker bewusst geworden. Dies gilt hinsichtlich ihrer Wohnbedingungen und ihrer Gesundheit ebenso wie in Bezug auf ihre Bildungs-, beruflichen Aufstiegs- und politischen Beteiligungsmöglichkeiten. Weniger beachtet wurde jedoch einerseits, dass die soziale Zerklüftung der jungen Generation schon vorher bestand, und andererseits, dass sie durch die Pandemie nicht bloß wie unter einem Brennglas hervorgetreten ist, sondern sich auch weiter verstärkt hat.

Die einen werden als Verlierer geboren …

Bei manchen Finanzschwachen gilt ein Kind als „Kostenfaktor auf zwei Beinen“ und hohes Armutsrisiko, obwohl Eltern schon vor der Geburt einkommensarm oder armutsbedroht gewesen sein müssen, wenn ihre Familie zu wenig Geld hat, um sich den Nachwuchs „leisten“ zu können. Die betroffenen Kinder haben auch schlechtere Bildungschancen und Berufsperspektiven. Dadurch vererbt sich Armut gewissermaßen sozial: Aus den armen Kleinkindern werden arme Jugendliche und später arme Erwachsene, die wieder arme Kinder bekommen, wenn sie den beschriebenen Teufelskreis nicht zu durchbrechen vermögen.

Da junge Menschen unter massivem Druck stehen, durch das Tragen von modischer Kleidung („Markenklamotten“) und den Besitz immer neuer, möglichst hochwertiger Konsumgüter „mitzuhalten“, kann Armut für sie noch beschämender als für Erwachsene sein. Wer als Jugendliche auf ein solches Prestigeobjekt verzichten muss (oder es gerade besonders demonstrativ zur Schau stellt, obwohl es mit Opfern etwa im Bereich der Grundnahrungsmittel, des Wohnens, der Bildung usw. erkauft wurde), wird im Kreis seiner Peers nicht akzeptiert. Die soziale Ausgrenzung ist eine der schlimmsten Konsequenzen von Armut und Unterversorgung im Kindesalter. Gerade in der Adoleszenz wirkt Armut demütigend, deprimierend und demoralisierend, weil diese Lebensphase für die Entwicklung des Selbstbewusstseins eines jungen Menschen von entscheidender Bedeutung ist.

Für Jugendliche ist es schmerzlich genug, mit den immer gleichen, verschlissenen, zu kleinen oder zu großen Sachen zur Schule gehen zu müssen. Werden sie aus diesem Grund von den eigenen Klassenkameraden ausgelacht, ist die Verletzung noch größer. So wird aus der Unterversorgung mit Kleidung sehr rasch soziale Ausgrenzung oder Isolation der von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen.

Ein gravierender Mangel der Diskussion über Kinderarmut besteht darin, dass diese weder als strukturelles Problem noch als Kehrseite des überbordenden privaten Reichtums, sondern nur als persönliches Schicksal oder individuelles Problem für die Betroffenen und deren Familien behandelt wird. Es reicht aber nicht, wie es zuletzt häufiger geschehen ist, über die armen Kinder zu reden. Man sollte auch, und zwar erheblich mehr über die reichen Kinder sprechen, wenngleich der Öffentlichkeit über sie viel weniger bekannt ist. Wo und wie sie leben, weiß kaum jemand genau. Denn ihre Eltern müssen Einkommen und Vermögen der Familie nicht gegenüber einem Jobcenter oder einem Sozial- bzw. Grundsicherungsamt detailliert offenlegen, wie das bei Hartz-IV-Abhängigen der Fall ist.

… die anderen kommen mit einem silbernen Löffel zur Welt und erben einen goldenen

Für wohlhabende, reiche und hyperreiche Familien sind Kinder kein ins Gewicht fallender „Kostenfaktor“, sondern teilweise ein begehrtes Investitionsobjekt, denn sie erhoffen sich von ihnen oft genug die Fortführung der eigenen Firma und/oder der Familientradition. „Klotzen statt kleckern!“ heißt deshalb die Devise von materiell Bessergestellten, wenn es um die finanzielle Ausstattung und Förderung des eigenen Nachwuchses geht.

Heute gibt es in Deutschland so viele reiche Kinder wie noch nie, weil sehr wohlhabende Eltern ihnen häufig aus steuerrechtlichen Gründen schon kurz nach der Geburt einen Teil ihres Vermögens schenken. Als manche Unternehmerfamilien fürchteten, dass die Erbschaftsteuer für Firmenerben vom Bundesverfassungsgericht für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt und anschließend verschärft würde, überschrieb man selbst noch kleinen Kindern ganze Konzerne. Ohne auch nur einen Steuercent zahlen zu müssen, erhielten so 90 Kinder unter 14 Jahren im Zeitraum von 2011 bis 2014 insgesamt 29,4 Milliarden Euro von ihren Eltern – im Durchschnitt nicht weniger als 327 Millionen Euro pro Kind!

Da kann man mit Fug und Recht von „Kinderreichtum“ sprechen, obwohl dieser Begriff im Deutschen ausschließlich für große Familien und Länder mit einer besonders jungen Bevölkerung verwendet wird. Natürlich muss ein Kind keine hochvermögenden Eltern haben, um von Geburt an bessere Chancen im Hinblick auf die Entfaltung seiner Persönlichkeit, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu haben. Auch die meisten Akademiker und Akademikerinnen der Mittelschicht sorgen dafür, dass ihre Kinder eine gute Ausgangsbasis im Wettkampf um Bildungszertifikate und berufliche Führungspositionen haben. Sie bringen ihre Sprösslinge in privaten Kindertageseinrichtungen und Privatschulen unter, bezahlen Nachhilfestunden zwecks Verbesserung der Schulnoten, lassen sie Musikunterricht nehmen und finanzieren ihnen längere Auslandsaufenthalte, um die Fremdsprachenkenntnisse der Kinder zu verbessern. Chancengleichheit sieht anders aus.

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