Die ganze besoffene Welt

Gabriele Tergits spektakulärer Roman „Der erste Zug nach Berlin“

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Die ganze besoffene Welt

Gabriele Tergits spektakulärer Roman „Der erste Zug nach Berlin“

Gabriele Tergit befindet sich in den frühen 1950er-Jahren in keiner guten Verfassung.

Das Deutschland, das vermeintlich gerade beschämt Luft holt, um alsbald den Marsch ins Wirtschaftswunderland anzutreten, aber auch nicht.

Tergit hat für ihr in vielen dunklen Kriegsjahren im Exil in Palästina und London geschriebenes monumentales Meisterwerk „Effingers“ erst keinen Verlag gefunden, dann miterleben müssen, dass von dem Buch, 1951 bei Hemmerich & Lesser erschienen, gerade einmal 2000 Exemplare verkauft wurden. „Bin ja neugierig, wie das antisemitische Volk dieses Buch aufnimmt“, hatte der Lektor des Verlages zuvor geschrieben. Sein Argwohn war begründet.

Tergit, in den letzten Jahren der Weimarer Republik als ungemein aufmerksame und souverän schreibende Gerichtsreporterin für Theodor Wolffs Berliner Tageblatt bekannt geworden, ehe sie mit ihrem Roman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ auch zum literarischen Superstar avancierte, hat Sehnsucht nach Berlin. 1948 kehrt sie in die Stadt ihrer Kindheit zurück und schreibt Reportagen, unter anderem für den Tagesspiegel.

Den nichts weniger als spektakulären Ertrag jener Reisen gibt es aber in seiner vollen Entfaltung erst jetzt, im Jahr 2023 zu erleben. „Der erste Zug nach Berlin“, Tergits hellsichtiger, beißend ironischer und betörend sprachmächtiger Roman, ist gerade bei Schöffling & Co. erstmals in der Fassung des Originaltyposkripts erschienen. Ein literarischer Segen. (In die Fassung, die weitgehend unbemerkt im Jahr 2000 erschien, war erheblich eingegriffen worden, „von vielen Abgründen befreit“, wie Nicole Henneberg im verdienstvollen Nachwort charakterisierte.)





Tergits Protagonistin Maud Phipps, eine sagenhaft naive Amerikanerin, schließt sich einer illustren Truppe an, die in Berlin im Auftrag des Alliierten Kontrollrats eine Zeitung mit Demokratisierungsauftrag etablieren soll. In der Melange aus Ahnungslosigkeit und Gutgläubigkeit kann man in Maud eine Wiedergängerin von Irmgard Keuns gleichaltriger Sanna in „Nach Mitternacht“ vermuten, die 1936 in Nazi-Deutschland nach anfänglicher Begeisterung für das neue Regime zu verstehen beginnt, welche Terrorherrschaft sich der hearts and minds bemächtigt hat.

Maud erlebt im Nachkriegsberlin eine widerwillige bis hartleibige Bevölkerung, die Tergit mit kristallklar grellen Aussagen auftreten lässt: „Ich bin nie ein Nazi gewesen, was denken Sie denn?“, legt etwa der Taxichauffeur los. „Mit der Rasselbande wollte ich nie was zu tun haben, die haben ja dem Menschen das Gehirn wegamputiert, aber wenn das Vaterland angegriffen wird, dann eilt man eben zu den Fahnen.“ Auf den Einwand eines Begleiters, dass doch niemand Deutschland angegriffen habe, antwortet der Fahrer: „Herr, das glauben Sie doch selber nicht. Sie sehen doch, es ist alles so gekommen, wie der Hitler gesagt hat und wie unsereiner es nicht hat glauben wollen.“ Die Russen hätten sie immer überfallen wollen und hätten schließlich das halbe Land Polen gegeben. Zum Beweis für die Überlegenheit und den Fortbestand nationalsozialistischer Regime in Südamerika präsentiert der Taximann eine Broschüre, die der Journalist Merton als Sammlung von Fake News entlarvt, aber: „Warum soll ich Ihnen das glauben?“, bekommt er darauf zu hören, es sei doch viel leichter, das Gegenteil zu behaupten, als es in einer Broschüre zu drucken. Merton, eine der wenigen Lichtgestalten des Romans, entgegnet ihm zeitlos treffend: „Sie haben völlig recht. Wenn man die Menschheit daran gewöhnt, dass im allgemeinen gelogen wird, braucht nichts mehr wahr zu sein.“

Sich die Wirklichkeit, Geschichte und Gegenwart zurechtzubiegen, versuchen alle Parteien, Landsleute und Glücksritter, die amerikanischen Erzkapitalisten nicht anders als die kommunistischen Kommissare, die britischen adligen Apologeten und die deutschen Wendehälse, die ewigen Nazis obendrein. Die ganze besoffene Welt – der Irrsinn ist auch nach dem „totalen Krieg“ nicht vorbei.

Tergits Maud taumelt durch diese Szenerie, verliebt sich einen aalglatten Ex-Nazi, will den Abenteuerspielplatz Deutschland nicht mehr verlassen, ehe eine Begegnung mit einem schwerkranken Überlebenden des Konzentrationslagers sie an ihrer bisherigen Weltwahrnehmung zu zweifeln beginnen lässt. Die Schilderung jener schicksalhaften Konfrontation ist noch einmal ein besonderes Zeugnis von Tergits literarischer Meisterschaft, frei von Kitsch und hohlem Pathos, aber voller emotionaler Wucht.

„Der erste Zug nach Berlin“ ist kein unmittelbar politischer Kommentar, weder für 1951 noch für heute. Der Roman stößt aber immer wieder in das kalte Herz des Weltgeschehens, mitten hinein in den offensichtlich zu allen Zeiten wiederkehrbaren kollektiven Wahn, den Hass, die Gier und die Hässlichkeit. Eine Welt, die ihre Niedertracht mit vermeintlich hehren Idealen nach außen zu beschönigen versucht und sich währenddessen mit den gleichen ideologischen Phrasen nach innen nur zu gerne selbst belügt und betäubt, das Bewusstsein zu verdrängen versucht. Mehr Gegenwart gibt es nicht. Gabriele Tergit ist die Autorin der Stunde.

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