Mental Load, Pflegearbeit und traditionelle Rollenbilder – Sabine Rennefanz spricht im HSB-Interview über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Coronazeit und die noch immer nicht erreichte Gleichberechtigung
Mental Load, Pflegearbeit und traditionelle Rollenbilder – Sabine Rennefanz spricht im HSB-Interview über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Coronazeit und die noch immer nicht erreichte Gleichberechtigung
Zwei Jahre Pandemie – geschlossene Kitas und Schulen, Homeoffice und endlose Zoom-Meetings. Sie beschreiben die Coronazeit als großen Rückschritt in Sachen Gleichberechtigung, als ob es sich um ein bloßes „Accessoire für fette Jahre“ gehandelt habe. Wie konnte es dazu kommen?
Vielleicht haben wir uns da kollektiv etwas vorgemacht und wollten nicht wahrhaben, wie traditionell Deutschland in Bezug auf das Verhältnis von Männern und Frauen noch ist, wie stark die klassischen Rollenbilder wirken und wie wenig sich strukturell geändert hat. Schon vor der Pandemie mussten Frauen mehr kämpfen, sie verdienten weniger, arbeiteten eher in Teilzeit, kümmerten sich mehr um Familie und Haushalt. Sie gingen schon mit einer schlechteren Verhandlungsposition in die Krise. Als die staatliche Betreuung plötzlich wegfiel, waren sie diejenigen, die mehr Fürsorge und Betreuung übernommen haben. Quasi automatisch. Das geht jetzt seit zwei Jahren so. Die Frauen haben die Gesellschaft in den vergangenen zwei Jahren am Laufen gehalten, zu Hause, im Krankenhaus, im Pflegeheim. Das wurde als selbstverständlich genommen. Viele können jetzt nicht mehr.
Im Buch verweisen Sie auf die zahlreichen Studien, die herausgefunden haben, dass Männer ihren Anteil an der Kinderbetreuung und im Haushalt deutlich höher einschätzen, als er offensichtlich tatsächlich ist. Einmal guten Willen unterstellt, woran liegt das?
Das ist eine Frage, die sich sogar die Bundesregierung stellt: in ihrem jüngsten Väterreport aus dem Jahr 2021. Als Begründung heißt es dann, dass Männer viele Organisationsaufgaben mangels Erfahrung nicht präsent haben. Ich würde noch weiter gehen. Vielen Männern scheint nicht bewusst zu sein, wie viel organisiert werden muss, damit eine Familie funktioniert, passende Kleidung, gesundes Essen, Hausaufgaben, Termine mit Freunden, Musikschule, mit dem Arzt. All das, was viele Frauen im Kopf haben, wird als Mental Load beschrieben. Diese Belastungen sind durch Corona, durch ständig wechselnde Regeln und Sorgen, eher noch größer geworden. Männer können das offenbar leichter verdrängen oder ignorieren, weil von ihnen gesellschaftlich auch weniger erwartet wird, dass sie sich darum kümmern. Wenn die Hausschuhe nicht mehr passen, wenn das Kind in der Schule Lernprobleme hat, fällt das auf die Mutter zurück.
In der Debatte über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen scheint es zwei Lager zu geben: Eines will die nötige Infrastruktur dafür schaffen, durch mehr Betreuungsangebote oder die Variante, dass Männer den Hauptteil der Erziehungs- und Care-Arbeit übernehmen, das andere die Arbeitszeiten für alle senken, um den Lebensteil der Work-Life-Balance zu stärken. Ist eines der Modelle feministischer als das andere?
Ich kann nicht für alle Feministinnen sprechen. Ich kann nur sagen: Wenn Männer jetzt den Hauptteil der Erziehungs- und Care-Arbeit übernehmen und quasi in die Rolle schlüpfen würden, die Frauen jahrzehntelang innehatten, fände ich das nicht besonders fortschrittlich. Es ist ja nicht so, dass Männern die Verantwortung als Alleinverdiener besonders gutgetan hat. Viele leiden unter dem Druck. Aus meiner Sicht muss das Ziel eine bessere Balance zwischen Erwerbsarbeit und Fürsorgearbeit sein, für alle Geschlechter und Familienkonstellationen, zum Beispiel durch eine Arbeitszeitverkürzung in anstrengenden Familienphasen.
Außenministerin Annalena Baerbock hat, nachdem sie im Wahlkampf entsprechende Fragen nach ihrer persönlicher Situation nicht beantworten wollte, jüngst gesagt, dass ab sofort ihr Mann aus dem Beruf aussteigen und sich Vollzeit um die beiden gemeinsamen Kinder sorgen werde. Eine lobenswert moderne Ehe – oder nur das überkommene Modell mit umgekehrten Rollen?
Mich hat das enttäuscht, zumal sie es als Zeichen der Emanzipation verkauft hat. Für mich klingt das nach dem 80er-Jahre-Modell von Helmut Kohl, nur unter umgekehrten Vorzeichen.
Sie beschrieben immer wieder die noch immer unterschiedlichen Prägungen in Sachen Kinder und Familie in Ost und West. Was könnten Frauen im Westen von jenen mit Osterfahrung lernen? Und umgekehrt?
Die Frauen in Ost und West haben sich in den vergangenen drei Jahrzehnten schon sehr angenähert. Vor dreißig Jahren waren 91 Prozent der Mütter erwerbstätig, im Westen waren es etwa die Hälfte. Inzwischen sind die Zahlen ähnlich. Wie die Ostfrauen wollen auch die Frauen im Westen nach der Geburt eines Kindes wieder in den Beruf einsteigen. Es gibt einen starken Wunsch nach Erwerbstätigkeit, es fehlt in den westlichen Bundesländern nur oft an verlässlicher und kostengünstiger Betreuung. Die Kosten für die Kinderbetreuung schwanken zwischen null und 600 Euro innerhalb Deutschlands. Und da Frauen oft weniger verdienen, ist es angesichts der steuerlichen Rahmenbedingungen oft günstiger, wenn sie länger zu Hause bleiben. Im Osten gehen Väter übrigens länger und häufiger in Elternzeit. Davon könnten sich die Westmänner etwas abschauen.
Trotz der Vielfältigkeit der Erfahrungen, Wünsche und Erwartungen habe sich in den vergangenen zwei Jahren doch viel Neues ereignet, schreiben Sie, zum ersten Mal machten „viele Frauen eine gemeinsame Erfahrung“ – viele von ihnen seien Mütter. Was gibt Ihnen Hoffnung auf mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit – hoffentlich – nach dieser Großkrise?
Die Coronakrise war eine kollektive Erfahrung, die Frauen unterschiedlichster Milieus erlebt haben: Wir werden einfach nicht gesehen. Daraus ist eine Wut entstanden, die sich hoffentlich in produktive Bahnen lenkt. Da geht es eher um eine langfristige Entwicklung. Wichtig wäre mir, dass die Anliegen von Frauen stärker mit den Rechten von Kindern verknüpft werden, denn die Geringschätzung von Frauen und Kindern hat ähnliche Wurzeln. Frauen sollten künftig viel stärker für Kinderrechte kämpfen, damit sie bei der nächsten Krise nicht wieder übersehen werden. Ich persönlich wäre für ein Wahlrecht ab Geburt, damit Kinder endlich auch als Bürger behandelt werden.