Die Herbstzeitlose

Nach zehn Jahren sind die Blätter des „Arabischen Frühlings“ giftig geworden

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PICTURE ALLIANCE/ZB | MATTHIAS TÖDT
Mit wehenden Fahnen: Märtyrerplatz, Tripolis, Libyen, 2012.
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PICTURE ALLIANCE/ZB | MATTHIAS TÖDT
Mit wehenden Fahnen: Märtyrerplatz, Tripolis, Libyen, 2012.

Die Herbstzeitlose

Nach zehn Jahren sind die Blätter des „Arabischen Frühlings“ giftig geworden

Als sich der junge Tunesier Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 in der Stadt Sidi Bouzid aus Protest gegen staatliche Schikanen anzündete, ahnte niemand, dass dies der Auslöser für eine umfassende politische Bewegung werden sollte, die heute – mit einem etwas poetischen Ausdruck – als „Arabischer Frühling“ in den Geschichtsbüchern erscheint. Andere bevorzugten den Begriff „Arabellion“, um das Revolutionäre, teilweise auch Gewalttätige, das bald in den Vordergrund trat, hervorzuheben. Hoffnungen wurden damals geweckt, Hoffnungen auf einen grundlegenden, wirklich demokratischen Wandel in einer Region, deren Staaten seit Jahrzehnten in Diktatur, gesellschaftlicher Sklerose oder religiösem Fanatismus erstarrt zu sein schienen. Der Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein durch den Krieg Präsident George W. Bushs hatte den Irak implodieren lassen: Der Terrorismus sunnitischer und schiitischer Gruppen verschärfte sich und strahlte mehr und mehr in andere Länder aus. So nahm es nicht wunder, dass das scheinbar aus dem Nichts aufgetauchte arabische Aufbegehren auch bei den Europäern Hoffnungen auf positive Veränderungen in dieser Nachbarregion weckte.

Zunächst geschah auch Außerordentliches: Fast alle arabischen Staaten wurden von dem politischen Aufbruch erfasst, allerdings in unterschiedlicher Intensität. In Tunesien verließ der Autokrat Zine el-Abidine Ben Ali sang- und klanglos seinen Thron und ging nach Saudi-Arabien ins Exil. In Ägypten ließ das Militär Präsident Hosni Mubarak fallen, sodass er nach dreißig Jahren Herrschaft das Feld räumte. Im Jemen stürzte der langjährige Machthaber Ali Abdullah Salih, auch er ein Mann des Militärs. In Libyen half westliche Intervention beim Sturz des Langzeit-Führers Muammar al-Gaddafi, ein Umsturz, der schon weitaus blutiger verlief als die vorgenannten „Revolutionen“.

Am populärsten wurde die Bewegung in Kairo, deren politischer, auch jugendlicher Elan von dem zentralen Tahrir-Platz, auf dem die Kundgebungen stattfanden, in die übrigen Länder des arabischen Westens und Ostens ausstrahlte. Selbst der vergleichsweise pluralistische Libanon wurde von der Arabellion ergriffen, zumal er trotz Ende des Bürgerkriegs als besonders zerbrechlicher Staat gelten konnte. In Bahrain mit seiner schiitischen Bevölkerungsmehrheit schlug man mit saudischer Unterstützung die Proteste nieder; andernorts, wie in den Arabischen Emiraten am Golf oder in dem abgelegenen Oman, waren sie weniger heftig, oder sie wurden mit Hilfe finanzieller Wohltaten eingedämmt.

In Syrien zeigten sich viele Beobachter schon beim Beginn der Unruhen, dann des bewaffneten Widerstandes gegen das Regime des Präsidenten Baschar al-Assad skeptisch, ob es der heterogenen Opposition gelingen werde, einen Wechsel an der Spitze, wie in Tunesien, Ägypten oder Libyen, zu erreichen. Assads Regime, so hieß es, sei aus anderem Holz geschnitzt, und die Verhältnisse Syriens mit denen in Ägypten seien kaum zu vergleichen. Auch seien die Mentalitäten von Ägyptern und Syrern verschieden. Assad, der seinen Clan und die alawitische Religionsgemeinschaft repräsentiert, ließ von Anfang an keinen Zweifel daran, dass er das Machtmonopol und den Besitzstand seiner Leute verteidigen werde, koste es, was es wolle.

Und die Auguren behielten recht.

Das syrische Regime konnte sich in jenem Maße behaupten, in dem die schwache demokratische Opposition marginalisiert, der Widerstand mehr und mehr von islamisch-fundamentalistischen, ja terroristischen Gruppen dominiert wurde. In Ägypten waren vorübergehend die islamistischen Kräfte die bestimmende Macht geworden. Der Diktator Assad konnte hingegen den weltlichen Charakter seines Regimes immer wieder zu seinen Gunsten ins Spiel bringen, erst recht, als mit dem „Islamischen Staat“ (IS) seit 2014 ein auf Terror gegründetes, wenn auch territorial kurzlebiges „Kalifat“ entstand. Zudem sprang Syriens alter Verbündeter, Russland, für Assad militärisch in die Bresche. Moskau wollte seinen einzigen ihm in der Mittelmeer-Region verbliebenen Brückenkopf nicht verlieren. Der amerikanische Präsident Donald Trump („America First“) verstärkte das schon unter seinem Vorgänger Obama eingeleitete „Disengagement“ im Nahen Osten.

Das Fazit zehn Jahre nach Ausbruch der Arabellion ist ernüchternd. Aus dem „Frühling“ ist nicht nur ein Winter geworden, vielmehr sind die Verhältnisse an den ehemaligen Brennpunkten schlimmer als zuvor. Unter der Herrschaft General al Sisis in Ägypten sitzen weitaus mehr Menschen in den Gefängnissen als unter Mubarak. In Libyen tobt ein blutiger Bürgerkrieg zwischen fundamentalistischen und „legitimistischen“ Kräften. Der Bürgerkrieg in Syrien ist eine menschliche Tragödie und eine politische Katastrophe; er wurde über die Jahre hinweg auch zum Stellvertreterkrieg zwischen sunnitischen Mächten (Saudi-Arabien, Ägypten, Türkei) und den von Iran angeführten Schiiten. Und der Konflikt zwischen diesen islamischen Konfessionen zerstörte auch den Jemen. Mehr und mehr zeigte sich ein Staatszerfall, der seinen Ursprung letztlich in jener „Ordnung“ hat, die von den westlichen Siegermächten nach dem ersten Weltkrieg im Nahen Osten geschaffen worden war: eine Ansammlung künstlicher Staaten, die jeweils durch Autokraten und Staatsparteien „zusammengehalten“ wurden.

Selbst in Tunesien, von wo die Bewegung ihren zunächst verheißungsvollen Ausgang nahm, ist Ernüchterung eingetreten. Zwar hat sich das Land merklich demokratisiert, doch das Parteiensystem ist heillos zersplittert, die Korruption allgegenwärtig. Die Wirtschaft liegt darnieder, und die Währung verfällt. Die Jugend hat resigniert. Die Blätter des „Arabischen Frühlings“ sind längst verdorrt, sein Geist ist vielleicht nicht für immer verschwunden, fürs Erste jedoch versandet.

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