Die innere Unsicherheit

Die Trauer um die Opfer von Hanau darf nicht wohlfeil bleiben, Minderheiten müssen geschützt werden

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PICTURE ALLIANCE/DPA | CHRISTOPHE GATEAU
#SayTheirNames: Gökhan Gültekin, Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Said Nesar El Hashemi
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#SayTheirNames: Gökhan Gültekin, Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Said Nesar El Hashemi

Die innere Unsicherheit

Die Trauer um die Opfer von Hanau darf nicht wohlfeil bleiben, Minderheiten müssen geschützt werden

Klau von Kriegsmunition und SS-Liederabende beim „Kommando Spezialkräfte“, rechtsradikale Chatgroups bei der Polizei, Hitlerverehrung in der Bundeswehr, Verstrickungen von V-Leuten des Verfassungsschutzes in NSU-Morde und islamistische Terroranschläge – vieles davon durch Vorgesetzte unrechtmäßig „amnestiert“, von zuständigen Ministerinnen und Ministern verschleiert und in der öffentlichen Meinung verharmlost: Das ist der traurige Hintergrund der von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beklagten Tatsache, dass der deutsche Staat Menschen mit Einwanderungsgeschichte nicht vor Terrorattacken und Diskriminierung schützen kann.

Das gilt nicht nur in Hanau vor einem Jahr, sondern seit vier Jahrzehnten nach Dutzenden von Mordanschlägen auf Migrantinnen und Migranten, Geflüchtete und Angehörige anderer Minderheiten (wie Wohnungslosen), die weißen Suprematisten ein Dorn im Auge sind. Die Mörder und Brandstifter träumen von einer biodeutschen, christlichen, strikt heterosexuellen und nicht zuletzt patriarchalen Gesellschaft, und ihnen stehen Biedermänner zur Seite, die zur Hetzjagd auf „Ausländer“ in Chemnitz 2018 erklärt haben: „Hass ist erstens nicht strafbar und hat zweitens in der Regel Gründe.“ (Alexander Gauland) Der AfD-Politiker schob dann etwas über „Nazi-Hohlköpfe“ nach, aber genau die haben schon verstanden und fühlen sich im Bundestag gut vertreten.

Vor staatlichen Ordnungshütern ist ihnen nicht bange, denn die Polizei kommt oft, wie in Hanau, zu spät oder gar nicht; bisweilen können sich Gewalttäter auf bewusstes Wegsehen und in einigen Fällen auf heimliches Einverständnis verlassen. Staatsanwälte verfolgen rechtsradikale Straftaten nicht konsequent, Gerichte fällen laxe Urteile, die Straftäter keines Besseren belehren und niemanden abschrecken. Alarmierend sind die Belege für den Schwund des staatlichen Gewaltmonopols, eines Grundpfeilers des neuzeitlich statuierten Gesellschaftsvertrags.

Wie man in jedem Grundkurs Politische Bildung lernen kann, haben die Bürgerinnen und Bürger dem modernen Staat die ausschließliche Befugnis übertragen, auf seinem Staatsgebiet physische Gewalt einzusetzen oder deren Einsatz zuzulassen. Das „Monopol legitimen physischen Zwangs für die Durchführung der Ordnung“ (Max Weber) ist das Rückgrat der inneren Souveränität eines Staates: Das Volk bleibt friedlich (und gibt seine Waffen ab), weil es sich darauf verlassen kann, dass der Staat es vor privater Gewalt schützt und Gewalt nur verhältnismäßig einsetzt, also an die Grundrechte gebunden. Selbstverständlich gilt das für alle Menschen auf dem jeweiligen Staatsgebiet.

Aber genau daran hapert es. Zwar gibt es keine (von der Polizei) „befreiten Zonen“, wie manche Neonazis prahlen, aber es gibt Stadtviertel und Dörfer, in die sich die Polizei nicht gerne hineinbewegt, in denen übrigens auch Feuerwehrpersonal und Rettungsdienste angegriffen werden und sich nicht mehr sicher fühlen. Für wen deswegen einmal Hilfe zu spät kam, der kann nachvollziehen, wie sich Migrantinnen und Migranten hierzulande sehr oft fühlen: bedroht und schutzlos. Ereignisse wie in Chemnitz zu verharmlosen, grenzt da an Beihilfe.

Waren Rechte früher zuverlässige Anwälte von „Law and Order“, so proklamieren sie heute eher ein „Widerstandsrecht“ gegen den Staat und das Establishment. So war es einem US-Präsidenten noch vor wenigen Wochen möglich, als Verfechter von Recht und Ordnung zu einem veritablen Staatsstreich aufzurufen, ohne dass dies seiner verhetzten Anhängerschaft aufgestoßen, in konservativen Medien kritisiert und von seiner Partei im Kongress verurteilt worden wäre. Diese Abteilung der Rechten ist zur offenen Anarchie bereit, und der Mob exekutiert nur, was er von höchster Stelle gehört zu haben meint, was in den sozialen Netzwerken verbreitet wird und in der Gesellschaft weithin akzeptiert ist.

Selbst wenn Polizisten people of color bedroht und ermordet haben oder systematisch racial profiling betreiben, fehlt ein klares Machtwort der Exekutive, um die Polizei nicht „in den Schmutz ziehen“ oder sie „pauschal verdächtigen“ zu lassen. Auch ich bin davon überzeugt, dass das Gros der Sicherheitskräfte den Dienst gewissenhaft und im Einklang mit dem Rechtsstaat versieht – oft übrigens unter schlechten Bedingungen, deren Beseitigung sich die Innenbehörden als Erste verschreiben sollten, statt Persilscheine für schwarze Schafe auszustellen, die so vereinzelt leider nicht mehr sind. Zu sprechen ist hier aber nicht über Fehlhandlungen von Polizistinnen und Polizisten, die Whistleblower und kritische Polizeibeobachter von innen und außen ans Licht bringen, da Vorgesetzte und Gewerkschafsbosse sie lieber unter den Tisch kehren.

Zu sprechen ist aus gegebenem Anlass über die Gefahr der Unterwanderung der Sicherheitskräfte durch Rechtsradikale, vor denen Minderheiten, aber auch die Mehrheit der Gesellschaft nicht mehr hinreichend geschützt ist. Wo sind Waffen und Munition an „Reichsbürger“ und gewaltbereite Rechtsradikale weitergegeben worden? Welche Rolle spielen dabei Schützenvereine? Wieso können Polizisten weiter als „NSU 2.0“ auftreten, wer schützt sie vor Entdeckung? Wo haben sich Sicherheitskräfte aus Frust über ihre Arbeitsbedingungen nach rechts entwickelt? Und warum werden Migrantinnen und Migranten, die Opfer einer Straftat wurden – siehe NSU, siehe Hanau –, wie Verbrecher behandelt? Sind Sicherheitsbeamte wirklich sensibilisiert für institutionellen und strukturellen Rassismus?

Beschwichtigend heißt es oft, Polizisten seien auch nur Menschen. Klar doch, und als solche verdienen sie Respekt und nach leichterem Fehlverhalten eine zweite Chance. Aber sie sind keine schutzbedürftige Minderheit, und es darf nicht umgekehrt „menscheln“. Wenn in Deutschland fünf von hundert Personen ein geschlossenes rechtsradikales Weltbild haben und bis zu 20 Prozent der Bevölkerung fremdenfeindlich eingestellt ist, darf sich das bei den Sicherheitskräften nicht abbilden und muss man auf Null-Toleranz gegen demokratie- und menschenfeindliche Haltungen dringen. Weder bei der Polizei noch beim Kommando Spezialkräfte (KSK) ist bisher „mit eisernem Besen“ durchgekehrt worden, wie es die Verteidigungsministerin vor Jahr und Tag angekündigt hat. Wenn die Trauer um die Opfer von Hanau nicht wohlfeil bleiben soll, muss das umgehend geschehen.

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