Die Kunst des Kompromisses in Krisenzeiten

Demokratische Staaten haben nicht nur hehre Werte, sondern auch schnöde, doch überlebenswichtige Interessen

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PICTURE ALLIANCE/PHOTOSHOT
Autokraten ante portas: Wieviel Spielraum hat der Westen zwischen Moral- und Realpolitik gegenüber den Putins und Xis der Welt?
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Autokraten ante portas: Wieviel Spielraum hat der Westen zwischen Moral- und Realpolitik gegenüber den Putins und Xis der Welt?

Die Kunst des Kompromisses in Krisenzeiten

Demokratische Staaten haben nicht nur hehre Werte, sondern auch schnöde, doch überlebenswichtige Interessen

Lesen Sie hier die englische Fassung  |  Read The Security Times here

Zwei widersprüchliche Trends machen gegenwärtig dem Westen zu schaffen. Der eine ist die Globalisierung der Weltwirtschaft: eine so enge Vernetzung der Handels- und Investitionsbeziehungen, dass sich das hemmungslose Austragen von politischen Konflikten und ideologischen Gegensätzen verbietet, wenn man sich nicht selbst ernsthaft beschädigen will.

Der zweite Trend ist eine seit fünfzehn Jahren anhaltende Abwendung von der Demokratie, die sich in der Corona-Pandemie spürbar verstärkt hat. Nur noch 19 Staaten gelten als vollgültige Demokratien. Deren Umgang mit den halbautoritären, autoritären und diktatorischen Staaten wird zusehends zum ethischen Problem. Es stellt sich nicht nur, aber vor allem im Verhältnis zu China und Russland dar.

Die Frage ist: Treiben wir Moralpolitik oder Realpolitik? Anders ausgedrückt: Prinzipienpolitik oder Interessenpolitik?

Dazu ist zunächst zu sagen, dass unser politisches Handeln natürlich wertegebunden, werteorientiert und moralisch sein muss. Das heißt jedoch nicht, dass wir unsere Wert- und Moralvorstellungen für alle anderen verbindlich machen oder machen könnten. Wir können sie niemandem aufzwingen. Wie auch? Militärische Aktionen verbieten sich gegen Atomwaffenbesitzer sowieso. Doch auch gegen alle anderen versprechen sie keinen Erfolg. Die humanitären Interventionen der zurückliegenden zwanzig Jahre – von Afghanistan über den Irak und Syrien bis hin nach Libyen – haben nur Anarchie, Bürgerkrieg und menschliches Elend hinterlassen. Von der „Schutzverantwortung“ der Weltgemeinschaft redet keiner mehr.

Demokratische Staaten haben nicht nur hehre Werte, sondern auch schnöde, doch überlebenswichtige Interessen. Dazu gehört nicht allein – und an erster Stelle – der Frieden. Ihn zu bewahren, nötigt unsere Außenpolitik, auch mit unliebsamen, gar üblen Regimen zusammenzuarbeiten. Wie Henry Kissinger gesagt hat: „Der Frieden ist eine moralische Priorität. Für Eingeäscherte gibt es keine Menschenrechte.“

Nicht minder wichtig ist jedoch der Wohlstand der westlichen Gesellschaften. Unsere Wirtschafts- und Handelspolitik muss darauf aus sein, unsere Prosperität zu erhalten und Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Wegen Alexej Nawalny, so schändlich seine Behandlung durch die Putin-Plutokratie auch ist, sollten wir nicht die letzten Brücken nach Russland abbrechen; da hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier völlig recht. Und die Unterdrückung der Uiguren in Xinjiang wie die Niederschlagung der Hongkonger Freiheitsbewegung, die wir zu Recht verurteilen, darf nicht zum totalen Abbruch der Handelsbeziehungen mit der Volksrepublik führen, wofür manch einer plädiert; sie würde nicht allein die deutsche Automobilindustrie, sondern die gesamte deutsche Wirtschaft in den Abgrund stürzen. Vor einer Diktatur der Emotionen müssen wir uns hüten.

Ideologen neigen dazu, Frieden und Wohlstand aufs Spiel zu setzen; es verschafft ihnen ein gutes Gewissen. Sie treiben am liebsten lautere, unverwässerte Prinzipienpolitik. Wenn sie allerdings in Regierungsverantwortung kommen, müssen sie handeln und können nicht nur pontifizieren.

Im Spannungsfeld zwischen Ideologie und Realität dürfen die Demokratien ihre Prinzipien nicht aus den Augen verlieren, aber sie müssen sich von den Umständen leiten lassen. Und sie müssen sich kein Gewissen daraus machen, dass das nationale Interesse es erfordert, auch mit Despoten zu reden. Mit Diktatorenknutscherei hat das nichts zu tun. Wollten wir den außenpolitischen Verkehr und die Handelsbeziehungen nur mit den „Guten“ zulassen, nicht auch mit den „Bösen“, stünden wir sehr einsam und ökonomisch höchst bedürftig da.

Diese Einsicht spiegelt einen ethischen Realismus wider, für den die Bundeskanzlerin 2015 auf der Münchner Sicherheitskonferenz klare Worte fand: „Wir sollten nicht so tun“, sagte sie, „als müsse die gesamte Menschheit von einem Tag zum anderen unseren Prinzipien folgen.“ Dabei erinnerte sie an die noch sehr lange gültige negative deutsche Einstellung zur Homosexualität und zu den Frauenrechten. Sie hätte auch erwähnen können, dass die CDU 1949 die Abschaffung der Todesstrafe ablehnte. Merkel stellte sich mit ihrer Äußerung voll in die Kontinuität ihrer Vorgänger. Es war Willy Brandt, der Moralist unter den deutschen Kanzlern, der 1972 nach einer heftig kritisierten Reise in das Persien des Schahs dem Bundestag erklärte: „Die politischen Verhältnisse in vielen Ländern entsprechen nicht unseren Vorstellungen von Demokratie. Doch wir sind nicht dazu aufgerufen, uns zu deren Richtern aufzuwerfen. Unsere Außenpolitik und die Vertretung unserer außenwirtschaftlichen Interessen müssen freibleiben von ideologischen Vorurteilen.“

Realpolitik ist nicht unethisch. Sie wägt die Folgen ihres Handelns und Nichthandelns ab; die Lauterkeit hehrer Gesinnung reicht ihr nicht als Leitlinie. Und sie hindert niemanden – die Öffentlichkeit, die Medien, die Parteien und auch die Regierung nicht –, unserer Empörung Ausdruck zu verleihen; das müssen Wladimir Putin und Xi Jinping aushalten. Empörung ist berechtigt, aber sie kann nicht das letzte Wort haben.

Im Übrigen kommt es vor allem darauf an, unsere Werte in der eigenen Welt zu wahren, hochzuhalten, zu praktizieren. Wenn in den Wirren der Welt die Wildwasser schäumen, müssen wir in erster Linie alles tun, dass bei uns die Uferböschungen halten.

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