Die liberale Einbildung

Kaltschnäuzige Steuersenker oder Freunde der Freiheit – wozu FDP?

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PICTURE-ALLIANCE/KAY NIETFELD/DPA
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Die liberale Einbildung

Kaltschnäuzige Steuersenker oder Freunde der Freiheit – wozu FDP?

Wer braucht die FDP? Schon in den 1990er-Jahren fand sich in Sozialkunde-Klausuren die Frage, ob die Partei nicht eigentlich überflüssig geworden sei, da auch alle anderen Parteien von links bis rechts mehr oder weniger dezidiert liberal positioniert oder doch zumindest nicht mehr antiliberal eingestellt seien. Letzteres wird man zwar heute nicht mehr derart uneingeschränkt behaupten können, doch was sich erhalten hat, ist der Subtext der Frage, der nahelegt, dass die FDP möglicherweise verschwinden könnte, ohne dass das Parteiensystem bleibenden Schaden erleiden würde – und angesichts aktueller Umfragewerte um die fünf Prozent ist dies kein völlig spekulatives Szenario.

Worauf ist diese Misere der FDP zurückzuführen? Zwei grundsätzliche und sich teils gegenseitig ergänzende Antwortmöglichkeiten drängen sich auf. Zum einen könnte es sein, dass die Freidemokraten zwar die richtige Politik im Angebot haben, es aber an der Nachfrage hapert – um es im Idiom der Ökonomie auszudrücken, dem die FDP ja so nahesteht. Und tatsächlich handelt es sich dort um eine Sorge, die sowohl Liberalismus als auch Neoliberalismus von jeher umtreibt: Die Menschen schätzen die Freiheit, wenn überhaupt, dann erst, wenn sie ihnen genommen wird, doch zumeist sehnen sie sich nach Sicherheit. Schon Friedrich August von Hayek dachte darüber nach, wie eine immer weiter sinkende Selbstständigenquote der liberalen Agenda schaden könnte, und der amerikanische Neoliberale James Buchanan stellte resigniert fest, dass sich auch nach dem Ende des Realsozialismus eine andere Art von sozialistischer Einstellung hartnäckig halte, die Eigenverantwortung scheue und es in ihrer „Furcht vor der Freiheit“ gar nicht erwarten könne, die Kontrolle über das eigene Leben bestimmten Autoritären und Instanzen inklusive dem sorgenden Staat anzutragen.

Man kommt nicht umhin festzustellen, dass diese grundsätzlichen Sorgen im anbrechenden Coronazän noch einmal wesentlich akuter geworden sind – womit wir bei den aktuellen Gründen des freidemokratischen Sinkflugs angelangt sind. In einer Gegenwart, die schon seit längerer Zeit und vor allem seit dem Frühling dieses Jahres von einer Kombination von Krisen und Unsicherheiten geprägt ist, kann sich eine kaltschnäuzige Weltsicht, der gemäß Probleme immer nur dornige Chancen sind, wie der junge Christian Lindner einst befand, nicht unbedingt der breiten Zustimmung der Bevölkerung sicher sein. Ja, der Staat verbietet, nimmt immense Schulden auf, subventioniert und rettet Unternehmen wie auch Arbeitsplätze und verstößt so im Zuge des Corona-Krisenmanagement so ziemlich gegen jede Maxime, die Liberale jemals hochgehalten haben.

Doch alle Daten, die Demoskopie-Institute liefern, deuten darauf hin, dass eine sehr breite Mehrheit der Bevölkerung mit der Grundrichtung dieses Krisenmanagements durchaus einverstanden sind – und man kann nur hoffen, dass die Freidemokraten nicht irgendwann beginnen, der Minderheit hinterherzulaufen, die „Tage der Freiheit“ gegen die Corona-Politik der Regierung veranstaltet. Die FDP kann dort nicht auf eine entgegenkommende liberale Staatsskepsis hoffen. Stattdessen bedürfte es entweder der Bereitschaft und Fähigkeit, genuin liberale Anliegen argumentativ-narrativ der Bevölkerung so nahezubringen, dass dieser die Gefahr übermäßiger Staatsschulden oder eines vermeintlich den Strukturwandel hemmenden Kurzarbeitergeldes klarer präsent wird, als dies offensichtlich aktuell der Fall ist. Oder sie müsste eine Art von Liberalismus anbieten, der sich eben nicht darin erschöpft, gebetsmühlenartig staatliche Übergriffigkeiten anzuprangern.

Dass gerade Letzteres der FDP nicht zu gelingen scheint, verweist auf die zweite grundsätzliche Möglichkeit, die Eingangsfrage, wer braucht die FDP?, zu beantworten, nämlich die Schuld weniger bei der Bevölkerung als eher bei der Partei selbst zu sehen. Das grundsätzliche Problem der FDP besteht demgemäß darin, dass sie zwar sowieso nie Volkspartei war, sich aber Schritt für Schritt immer weiter dem Status einer Nischenpartei angenähert hat, die (zumeist) ein entsprechend prekäres Schattendasein fristet.

Dieses Verengungssyndrom reicht bis in die Nachkriegsanfänge zurück, als sich die Partei zwar sicherlich als „Partei der Sozialen Marktwirtschaft“ bezeichnete, aber sich eigentlich als ordnungspolitisch-liberales Gewissen und Korrektiv gegenüber einer zu christdemokratisch-staatsgläubigen Union verstand und dem Sozialen in der sozialen Marktwirtschaft mit Vorbehalten gegenüberstand. Als die FDP 1982 das Lager wechselte, gingen ihr zudem weite Teile ihres sozialliberalen Bürgerrechtsflügels verloren. Das Lambsdorff-Papier, das den Anlass zur Aufkündigung der sozialliberalen Koalition geliefert hatte, indem es in provozierender Unverblümtheit tiefe Einschnitte in die soziale Marktwirtschaft forderte, entpuppte sich zudem als Fluch in mehrerlei Hinsicht: Erstens wurde die FDP daran gemessen, inwieweit diese weitreichenden Vorschläge in der schwarz-gelben Koalition umgesetzt wurden. Diese Bilanz fiel eher schlecht aus, was im Übrigen auch für die einzige spätere Regierungsbeteiligung im Bund gilt, als die FDP mit vollmundigen Bierdeckel-Steuerreform-Versprechen antrat und von der Regierungsarbeit allein die skandalumwitterte Mövenpick-Steuer in Erinnerung blieb.

Neben dieser Bilanz des weitgehenden Scheiterns in der Regierungsarbeit plagt die FDP seit dem Lambsdorff-Papier zweitens vor allem der Ruf, nicht mehr als eine Klientelpartei von Unternehmen und Besserverdienenden zu sein, deren ceterum censeo Deregulierung und Steuer- bzw. Abgabensenkungen sind. Gerade unter Guido Westerwelle wurde diese Verengung der Perspektive auf die Spitze getrieben. Die Parteiführung um Christian Lindner hat nach dem Kollaps 2013 zwar immer wieder gelobt, dass sie daraus gelernt hätte, aber davon ist bis heute nicht viel zu spüren. Zwar wird kolportiert, dass sich auch auf Lindners Schreibtisch Andreas Reckwitz soziologischer Bestseller „Das Ende der Illusionen“ finde, worin unter anderem ein ausgewogener oder „einbettender“ Liberalismus angeregt wird, doch von einer solchen Erweiterung der Perspektive über das bloß Wirtschaftsliberale hinaus ist bislang nur wenig zu spüren. Denn wenn es hart auf hart kommt, ist aus der FDP eben doch nur zu hören, dass der Soli abgeschafft und die Zahlung des Kurzarbeitergelds eingestellt werden solle. Doch als ein solches One-Trick-Pony wird es die FDP schwer haben – zumal sie eben auch weitgehend eine One-Man-Show ist und die Verbreiterung des Profils auch eine breitere personelle Aufstellung erforderte.

Ironischerweise hat also gerade die Partei des Individualismus eine kollektivere Ausrichtung bitter nötig, um sie vor dem Abrutschen in die erneute Bedeutungslosigkeit zu bewahren.

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