Die politische Grundstimmung in Westdeutschland nähert sich der in Ostdeutschland an. Darin liegt auch eine Chance
Die politische Grundstimmung in Westdeutschland nähert sich der in Ostdeutschland an. Darin liegt auch eine Chance
Wenn politische Nachrichten aus dem Osten Deutschlands in den bundesweiten Medien eine Rolle spielen, geschieht das meist mit einem seit drei Jahrzehnten erprobten Dreiklang: Am ersten Tag macht die bloße Nachricht die Runde, meistens garniert mit der ein oder anderen Empörungswelle auf Twitter und Co. Am zweiten Tag folgen einige Leitartikel und Kommentare zum Thema. Und wenn es gut läuft, äußern sich am dritten Tag noch zwei oder drei Experten mit weiterführenden Einordnungen. Spätestens danach verschwindet das Thema wieder in der Versenkung.
Auch in den vergangenen Wochen war dieser reflexhafte Umgang mit „Ost“-Nachrichten zu erleben. Etwa, als die Nachricht die Runde machte, dass die AfD laut aktuellen Meinungsumfragen bei Wahlen in Brandenburg gegenwärtig die stärkste Kraft würde. Oder als am Einheitsfeiertag über 100 000 Menschen in ostdeutschen Städten auf die Straße gingen, um gegen die deutsche Ukraine- und Energiepolitik zu demonstrieren. Und auch der Bericht zum Stand der deutschen Einheit, dieses Jahr erstmals vorgetragen vom neuen Ost-Beauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider (SPD), machte vor wenigen Wochen auf diese Weise nur als kurzes Strohfeuer die Runde.
Dabei hätte das, was Schneider in seinem Bericht mitzuteilen hatte, durchaus eine nähere Betrachtung verdient. So enthält das Papier alljährlich eine repräsentative Umfrage unter Ost- und Westdeutschen, die jenseits aller politischen Beschönigungslyrik (Schneider: „Ostdeutschland ist im Aufwind!“) regelmäßig Auskunft darüber gibt, wie weit die politischen Ansichten in Ost und West noch immer voneinander abweichen. Daran hat sich im Grundsatz zwar auch dieses Mal nichts geändert: Im Osten haben die Menschen relativ gesehen weniger Zutrauen in Demokratie und Meinungsfreiheit, auch die Zufriedenheit mit der Politik im Allgemeinen ist dort weniger ausgeprägt. Obendrein sind die Werte seit der Umfrage vor zwei Jahren weiter gesunken.
Doch in diesem Jahr war den Zahlen auch eine andere Entwicklung zu entnehmen, die nicht so sehr den Osten, sondern vielmehr den Westen betraf. Denn die Studie ergab, dass die westdeutschen Zufriedenheitswerte schneller sinken als die im Osten. Mit anderen Worten: Die westdeutsche Politikwahrnehmung nähert sich der des Ostens an. Die Auffassung, dass die freie Meinungsäußerung erodiert, und die Unzufriedenheit mit der bundesrepublikanischen Ausprägung unserer Demokratie – solche Standpunkte galten in Westdeutschland lange als nicht salonfähig, werden inzwischen aber von einem großen und immer größer werdenden Teil der Bevölkerung vertreten.
Natürlich ist das zunächst alles andere als eine gute Nachricht – ganz besonders nicht für all jene, die in diesem Land aktiv daran mitwirken, das demokratische Gemeinwesen mit Leben zu füllen, seien es nun Politiker, Verbandsvertreter oder Journalisten. Doch wer dem Reflex widersteht, die in diesem Stimmungsbild zum Ausdruck kommenden Meinungen eines großen Teils der Bevölkerung als dumm und unpassend zu verdammen (was leider nach Bekanntgabe der Werte in vielen Gazetten und natürlich auch auf Twitter umgehend geschah), dem ermöglicht die Entwicklung einen neuen Blick auf bisher speziell ostdeutsche Besonderheiten der Politikwahrnehmung, die jetzt offenbar auch im Westen um sich greift.
Denn für die ostdeutsche Politik-Skepsis und mitunter auch -Verdrossenheit gibt es gute Gründe, die sich nicht bloß am Umgang mit Politik und Politikern erklären lassen – sondern auch am Umgang mit Journalismus und Journalisten. Es folgen deshalb drei Schlaglichter auf die ostdeutsche Journalismus-Wahrnehmung – und eine Analogie auf ein übergeordnetes Phänomen, mit dem sich erklären lässt, weshalb derselbe Trend nun auch in Westdeutschland stattfindet.
1. Es gibt im Osten keine „Meinungsführer“-Medien
Massenmedien haben in Ostdeutschland traditionell einen schwereren Stand als im Westen, weil jenseits regionaler Titel etablierte Medienmarken fehlen und sich die großen, bundesweiten Titel dort nicht in derselben Weise etablieren konnten wie im Westen. Die einstmals westdeutschen „Leitmedien“ haben im Osten nie den Einfluss erreicht, den sie im Westen (noch) haben – was dazu führt, dass die politische Meinungsbildung im Osten polyphoner, kleinteiliger und weniger strukturiert vor sich geht. Das ist für sich genommen keine schlechte Nachricht, außer vielleicht für die Vertreter jener „Leitmedien“. Denn eine vielseitige und kleinteilige Informationskultur kann durchaus ihren Beitrag leisten zu einem lebendigen demokratischen Gemeinwohl.
Im Osten ist deshalb schon lange klar: Politische Meinungsbildung muss nicht in erster Linie durch Massenmedien betrieben werden. Seit gut einem Jahrzehnt zeigt sich das auch im globalen Zusammenhang, nämlich am weltweit rapide steigenden Einfluss von Meinungsbildung auf Social Media im Internet. Nach und nach vollzieht sich in allen westlichen Demokratien eine Entwicklung, die man in Ostdeutschland (und übrigens auch in Osteuropa) in gewisser Weise schon vor dem Aufkommen der großen Online-Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Instagram kannte – hierzulande durch die Zugehörigkeit zu einer Art analogem sozialen Netzwerk namens „ostdeutsche Herkunft“. Die Gesprächsräume, die sich aus dieser Zugehörigkeit ergaben, waren den großen Massenmedien nicht immer zugänglich, mitunter nicht einmal bekannt, zum Teil sind sie es sogar bis heute nicht.
2. Viele Medien hadern mit ihrer Rolle in Ostdeutschland
Und genau das führt zum zweiten, weitaus größeren Problem: Die Massenmedien – seien es solche mit bundesweitem Anspruch oder ostdeutsche Regionalmedien – sind in den vergangenen Jahrzehnten in Ostdeutschland häufig daran gescheitert, ihre Rolle in diesem weitaus komplexeren Prozess ostdeutscher Meinungsbildung zu finden. Zu oft, geradezu regelmäßig, sind Medien mit bundesweitem Sendungsanspruch der Versuchung erlegen, ihre Beiträge gar nicht für ein bundesweites, sondern bloß für ein westdeutsch sozialisiertes Publikum zu verfassen. Heraus kamen dann Beiträge, die zwar dem Westen erklären wollten, was im Osten passiert – aber dabei billigend in Kauf nahmen, dass diese Beiträge für das ostdeutsche Publikum, das man eigentlich so gern erreicht hätte, ungenießbar wurden.
Auch hierin liegt, genau wie beim ersten Problemkreis, eine Analogie zum Umgang mit Nutzergruppen, die sich heute bereitwilliger in Social Media informieren als in den althergebrachten Massenmedien: Anstatt zu versuchen, mit diesen Nutzergruppen im Dialog zu bleiben, ziehen sich viele Beiträge in Massenmedien zu leichtfertig darauf zurück, mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf diese Menschen zu zeigen – und nicht einmal zu versuchen, herauszufinden, warum sie nach Alternativen zu den althergebrachten Massenmedien suchen.
Anstatt beispielsweise mit Formaten wie „Faktenchecks“ oberlehrerhaft auf all jene zu zeigen, die im Internet einer (mitunter nur vermeintlichen) Falschinformation auf den Leim gegangen sind, müsste es also darum gehen, herauszufinden, wie Massenmedien mit dem Anspruch, die ganze Wirklichkeit abzubilden, in die Lage geraten konnten, dass in den Internet-Netzwerken mitunter alternative Wirklichkeiten und Wahrheiten auftauchen, die eben nicht schon allein deshalb falsch sind, weil sie nicht in den Massenmedien auftauchen. Die Berichterstattung über das Coronavirus war hierfür ein Lehrbeispiel: Ob über Sinnhaftigkeit von Lockdowns, mögliche Folgen der Corona-Impfung oder den Nutzen einer Impfpflicht –all das spielte in den bundesweiten Massenmedien oft nur am Rande eine Rolle. Heute müssen sich die Verantwortlichen mitunter schon fragen, ob man die Diskussionen in den Medien damals wirklich breit genug geführt hat, denn die weitere Entwicklung hat oftmals gezeigt, dass die Dinge längst nicht so klar waren, wie sie damals von vielen dargestellt wurden. Auf Social Media gab es diese Diskussionen aber. Doch anstatt zu versuchen, die Debatten auch in den Massenmedien stattfinden zu lassen, wurden derartige Fragestellen dort mitunter recht schnell in die Ecke der „Querdenker“ abgeschoben. Völlig unabhängig von den inhaltlichen Fragestellungen: Diese partielle Diskursverweigerung hat der Reputation der Massenmedien geschadet. Ganz besonders in Ostdeutschland, wo diese Medien nie die Wirkmacht entfalten konnten, die sie in Westdeutschland (noch) haben.
«Nicht mit uns! – Wir frieren nicht für Profite!»,
gehen durch Erfurt im September. Zu der Protest-Veranstaltung hatte ein Bündnis von Gewerkschaften, Sozialverbänden und anderen Organisationen aufgerufen.
3. Im Osten ist die Bereitschaft größer, Nachrichten und (vermeintliche) Wahrheiten zu hinterfragen
Was wiederum nahtlos zum dritten, vermutlich größten Problem führt: Die Medienwahrnehmung in Ostdeutschland ist generell skeptischer; die Bereitschaft, nicht nur journalistische Meinungsbeiträge, sondern sogar Nachrichten zu hinterfragen, ist deutlich größer. Man kann das sonderbar finden, wenn man – wie im Westen – lange gewohnt war, dass das Publikum zumindest das journalistische Grundrauschen weitgehend unhinterfragt als „wahr“ akzeptiert. Man kann es aber auch genießen, dass das Publikum kritische Fragen stellt und immer wieder einfordert, dass vermeintliche Wahrheiten auch als solche belegt werden. Dass diese Bereitschaft im Osten höher ist, liegt in der Natur der Sache: Dort gab es bis 1989 eine uniforme, staatlich gelenkte Medienlandschaft, in der veröffentlichte und öffentlich wahrgenommene Fakten einander mitunter diametral widersprachen. Die Bevölkerung war es gewohnt, auch bei Nachrichten auf Zwischentöne zu achten und im Zweifel nicht alles für bare Münze zu nehmen, was dort zu lesen, zu hören und zu sehen war. Es ist nur naheliegend, dass man damit im Jahr 1990 nicht plötzlich aufhörte; zumal die Wiedervereinigung von Anfang an geprägt war von so manchen Merkwürdigkeiten und Unerklärlichkeiten, die dem Publikum in Westdeutschland vielleicht einleuchten mochten – in Ostdeutschland aber nicht.
Dennoch empfinden viele journalistische Kollegen die Skepsis, die ihnen bis heute im Osten entgegenschlägt, als kränkend oder ehrverletzend. Dafür besteht jedoch eigentlich kein Anlass: Die Skepsis des ostdeutschen Publikums ist vielmehr eine große Bereicherung für die eigene Arbeit; hilft sie doch dabei, den eigenen Blick zu schärfen und kritische Fragen auch dort zu stellen, wo man einen Zusammenhang vielleicht gar nicht mehr von sich aus hinterfragt hätte.
Auch dieser dritte Aspekt lässt sich auf den Umgang mit den neuen Formen digitaler Meinungsbildung in Social Media übertragen: Die Skepsis gegenüber „etablierter“ Berichterstattung ist eine glückliche Chance, diese Berichterstattung besser, präziser und wahrhaftiger zu machen. Ja, es hält mitunter auf, sogar die Sachverhalte, die man selbst gern als allgemeingültig betrachten würde, immer wieder aufs Neue zu begründen und zu validieren. Und es nervt, dass man berechtigte kritische Rückfragen zunächst einmal aufwendig von echtem Unfug und Dummfug, den es im Internet zweifellos ebenfalls in Massen gibt, trennen muss. Aber all das dient letztlich vor allem der Qualitätssicherung der eigenen Arbeit.
Was für den Journalismus in Ostdeutschland gilt, gilt auch für die Politik
Was für den Journalismus gilt, gilt genauso auch für die Politik: Wer dort nicht dazu bereit ist, die eigenen Grundsätze zu erklären, transparent zu machen und zuzulassen, dass sie hinterfragt werden, muss stärker als im Westen mit der Missgunst seiner Wähler rechnen. So erklärt sich die höhere ostdeutsche Wechselbereitschaft bei politischen Wahlen, keineswegs nur zu beobachten beim immer wieder aufbrandenden Zuspruch für Parteien wie die AfD, sondern zuletzt etwa beim beinahe flächendeckenden Wahlerfolg der SPD in den ostdeutschen Bundesländern bei der Bundestagswahl 2021. So erklärt sich aber auch, weshalb in den vergangenen Jahren vor allem die Grünen im Osten ihre Schwierigkeiten hatten: Weil Vertreter dieser Partei es lange gewohnt waren, dass sie ihre wichtigsten politischen Ziele (wie Klimaschutz, Nachhaltigkeit und Internationalität) in den Massenmedien kaum erklären oder gar rechtfertigen mussten, weil sie bei den dortigen Autoren und Moderatoren als allgemein anerkannt und akzeptiert galten.
In Ostdeutschland mit seiner historischen Prägung verfing so etwas schon früher nicht. Dass es dank der Diversifizierung der politischen Meinungsbildung durch Social Media und Co. zunehmend auch in Westdeutschland schwer wird, vermeintliche Allgemeingültigkeiten zu postulieren und unhinterfragt stehen zu lassen, mag den demokratischen Meinungsbildungsprozess zwar komplizierter und langsamer machen. Es kann aber dazu beitragen, ihn gründlicher und wahrhaftiger zu machen – und es kann dabei helfen, die politischen Unterschiede zwischen Ost und West zu überwinden, die im Jahr 34 nach der Wiedervereinigung eigentlich schon viel weiter abgebaut sein müssten, als sie es tatsächlich sind.