2020 war eine Bewährungsprobe für die Demokratie. Wir müssen alle weiter für sie eintreten
2020 war eine Bewährungsprobe für die Demokratie. Wir müssen alle weiter für sie eintreten
2020 – das dreißigste Jahr der Deutschen Einheit war das dramatischste Jahr seit der Wiedervereinigung, das dramatischste Jahr seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Dieses Pandemiejahr 2020 war zugleich die größte demokratische Bewährungsprobe seit Bestehen der Bundesrepublik.
Wir erlebten rechtsextreme Hetzparolen der AfD, verquere Behauptungen zu Corona von den „Querdenkern“, aber auch zum Teil umstrittene staatliche Verfügungen. 2020 musste die Demokratie viel aushalten, um ihre Bewährungsprobe zu bestehen.
Festzuhalten bleibt zunächst: Bundestag, Bundesrat und Länderparlamente waren in die Entscheidungen eingebunden, mit dem Infektionsschutzgesetz hat der Bundestag selbst die Grundlagen geschaffen. Im Bundestag wurde häufig über die Strategien zur Corona-Bekämpfung debattiert.
Festzuhalten bleibt aber auch: Bei den Maßnahmen, die die häufigen Ministerpräsidentenkonferenzen mit der Bundeskanzlerin in den vergangenen Monaten getroffenen haben, hätte man sich gleich zu Anfang eine größere Beteiligung des Bundestages vorstellen können. Es war der Bundestag selbst, der seine Beteiligung am Beratungs- und Umsetzungsprozess erst relativ spät eingefordert hat.
Über notwendige Eingriffe in die Grundrechte wurde offen und häufig in Parlamenten, in Talkshows, in Zeitungskommentaren und im Internet kritisch berichtet und kontrovers diskutiert. Die unzähligen „Querdenker-Demonstrationen“ – häufig unter bewusster Verletzung aller Auflagen wie Maskentragen – konnten stattfinden, wenn sie auch zu Recht von der Polizei in einigen Fällen beendet wurden. Immer wieder war das wichtigste Kriterium die Frage der Verhältnismäßigkeit der angeordneten Maßnahmen, so wie es bei Eingriffen in die Grundrechte vorgeschrieben ist.
Immer wieder haben Gerichte die Entscheidungen der Politik und der ausführenden Behörden geprüft und teilweise – in einigen Fällen etwas weltfremd – abgelehnt. Der Rechtsstaat hat die Bewährungsprobe bestanden – eine wichtige Erkenntnis, die zuversichtlich stimmt.
All das wäre in einer Diktatur wie in Lukaschenkos Belarus, in Putins Russland, in Xi Jinpings China, in Orbans Ungarn nicht möglich gewesen. Das sollten wir jeden Tag den gefährlichen „Corona-Diktatur“-Schwaflern entgegenhalten.
Vergleiche der heutigen Coronapolitik mit dem „Dritten Reich“ sind – wie es der Historiker Heinrich August Winkler in einem Interview so treffend ausdrückte – „hanebüchen und geradezu pervers“. (In einem exzellenten Beitrag für den Hauptstadtbrief hat Andrea Löw jüngst die schiefen Ansichten auseinandergenommen.)
Die Grundpfeiler der Demokratie in diesem Land haben einer Bedrohung standgehalten, die Demokratie hat sich bewährt, allen Unkenrufen zum Trotz.
Eine Schlussfolgerung aus 2020 ist so wichtig wie banal: Es muss weiter jeden Tag um die Demokratie von Neuem gekämpft werden, vielleicht noch mehr als in der Vergangenheit, denn eine bittere Erkenntnis dieses Pandemiejahres 2020 lautet: Der Ton der Auseinandersetzung hat sich dramatisch verschärft, Hass und Hetze gegen Andersdenkende, gegen handelnde Politikerinnen, gegen herausragende Wissenschaftler, gegen Befürworterinnen und Befürworter der Anti-Corona-Maßnahmen, haben durch die grenzenlose Verbreitung im Internet und durch rechtsextreme Unterstützer der „Querdenker“-Protest-Bewegung besorgniserregend zugenommen. Menschenverachtende Kommentare und Handlungen von Coronaleugnern, die auch in diesen dunklen Tagen der zweiten Welle nicht aufgehört haben, sind ein gefährliches Gift für das Zusammenleben dieser Gesellschaft.
Sichtbar wurde besonders ein Mangel unserer demokratischen Gesellschaft: Die sogenannte schweigende Mehrheit, die Bürger und Bürgerinnen, die zu fast drei Viertel mit den Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung einverstanden waren, diese schweigende Mehrheit fand eher selten Beachtung in der Öffentlichkeit. Man muss sich fragen: Warum blieb sie so still? Geht es ihr zu gut, erkennt sie die Bedrohungen nicht? Da heißt es: Aufwachen!
Die Maßnahmen gegen das Virus haben viele Bereiche im Geschäftsleben, im Kulturbereich und im privaten Miteinander hart getroffen, daher ist es wichtig festzuhalten: Längst nicht alle Protestierenden waren sogenannte „Covidioten“ oder Spinner, sondern Menschen, die Angst um ihre Zukunft hatten und immer noch haben. Das gilt besonders für die Jüngeren in unserer Gesellschaft. Gleichzeitig hat es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik so viele Milliarden Euro an Hilfsgeldern gegeben, wie es in diesem Jahr und wohl auch im kommenden geben wird.
Den Ton jedoch gaben die Radikalen an. Durch das Auftreten der rechtsextremen AfD wurden Hass und Hetze in der politischen Auseinandersetzung bis in den Bundestag getragen – die bitterste Erkenntnis dieses Jahres.
Zum Vertrauen in die Demokratie in unserem Land gehört auch das Vertrauen in den Föderalismus. Das Handeln der Ministerpräsidenten in der Covid-Krise jedoch hat das Vertrauen in den Föderalismus beschädigt. Der wochenlange Wettlauf der Bundesländer und ihrer Ministerpräsidenten um die härtesten oder lockersten Maßnahmen, von der geringen Haltbarkeit der gefassten Beschlüsse bis hin zum unausgesprochenen Wettkampf um den CDU-Parteivorsitz und die Kanzlerkandidatur – all das hat das Vertrauen in die Politik nicht gestärkt, sondern die Bevölkerung verunsichert und ratlos gelassen. Die Ministerpräsidenten haben mitten in der Coronakrise eher Chaos gestiftet. Die dramatische Infektionslage der vergangenen Tage geht auch auf ihre rein länderbezogene Politik zurück.
Es kann die Frage gestellt werden, ob in solchen Notsituationen nicht doch ein zeitlich begrenztes, einheitliches Handeln angeordnet werden sollte, mehr Rechte auf den Bund übergehen müssten, wohlgemerkt immer – und sei es auch per Eilverfahren – beraten und verabschiedet vom Deutschen Bundestag.
Die Menschen benötigen in solch dramatischen Krisen Klarheit und kein Chaos, keine unterschiedlichen, schwer verständlichen Regeln.
In den jüngsten Meinungsumfragen beim ARD-Deutschlandtrend zeigte sich eine Mehrheit von 57 Prozent mit dem Krisenmanagement von Bund und Ländern zufrieden, 42 Prozent waren dagegen unzufrieden. Das zeigt: Das Vertrauen in den Föderalismus ist noch vorhanden, aber es hat deutliche Dellen bekommen.
Viele Befürchtungen der Bundeskanzlerin haben sich bewahrheitet. Eine kurze Zeit herrschte das Gefühl, Angela Merkel habe die Kontrolle und Überzeugungskraft gegenüber den egoistisch handelnden Ministerpräsidenten verloren. Mit ihrer emotionalen Rede im Deutschen Bundestag am 9. Dezember jedoch hat die Kanzlerin ihre Stellung wieder gestärkt. Die traurige Entwicklung bei den Infektionen gibt ihr zusätzlich recht. Da sehen einige Ministerpräsidenten nicht besonders gut aus. Demokratie benötigt auch starkes Führungspersonal mit Glaubwürdigkeit.
Zum Schluss noch ein Wort zu Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Er hat zu Anfang Fehleinschätzungen zur Bedeutung von Covid-19 abgegeben und im weiteren Verlauf nicht immer einen souveränen Eindruck hinterlassen, sein Handeln ist nicht frei von Fehlern – konnte es auch nicht sein, dafür ist diese Krise zu gewaltig. Die größte Bewährungsprobe steht ihm noch bevor: der Ablauf der Impfungen.
Ein Satz Spahns gleich zu Beginn der Pandemie gewinnt immer mehr an Bedeutung: „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“
Dieser Satz gilt für alle in diesem Land. Er gehört auch zu einer Demokratie.