Das Rezept verändern und einen anderen Kuchen backen – wie aus Diskriminierung auch Stärke und das Potential für Veränderung entstehen kann
Das Rezept verändern und einen anderen Kuchen backen – wie aus Diskriminierung auch Stärke und das Potential für Veränderung entstehen kann
In ihrem Buch „Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit“ untersucht die Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach in sieben zusammenhängenden Essays, warum Frauen heute so erschöpft sind. Neben der permanenten Mehrarbeit, die Frauen im Bereich der Sorgearbeit leisten, sind es auch Faktoren wie Abwertung und Frauenfeindlichkeit, die dazu führen, dass Frauen immer wieder um Geltung kämpfen und um ihren Platz in der Gesellschaft ringen müssen. Franziska Schutzbach zeigt dabei nicht nur, wie energieraubend Abwertung und Ausschluss sind, sondern wie Frauen und andere minorisierte Menschen trotz dieser widrigen Umstände widerständig handeln und die Gesellschaft verändern.
Es geht also auch darum zu fragen, an welchem Punkt Ausschluss und Unterdrückung nicht umfassend gelingen, sondern trotz allem Freiheit beziehungsweise Ansätze von Freiheit gelebt werden. So schlägt etwa die Philosophin Wanda Tommasi vor, die historische Unsichtbarkeit der Frauen etwa in Politik oder Wirtschaft nicht nur als Folge von Ausschlüssen zu denken, sondern auch als Wille oder Entscheidung, sich nicht in den toxischen Zentren der Macht aufzuhalten oder diese nicht als die relevanten Orte anzuerkennen.
Die Abwesenheit der Frauen kann auch als eine Weigerung interpretiert werden, sich an den – oft zerstörerischen – Machtpraxen zu beteiligen, als eine Entscheidung, andere Dinge zu tun. Ähnlich sieht es auch die Schwarze Feministin Audre Lorde, wenn sie die Betonung und Sichtbarmachung von Andersheit fordert. Die Kritik ungerechter Verhältnisse und die Wut darüber sind aus Lordes Sicht visionär, weil sie auch das Erkennen des Potenzials der Ausgeschlossenen, der Nicht-Kompatiblen beinhalten. Denn dieses Nicht-Integrierbare hat Kraft, sonst müsste es eben nicht mit aller Macht ausgeschlossen, diskriminiert und abgewertet werden. Es ginge also darum zu fragen, was das Anderssein, was Minorisierung an Möglichkeiten bietet, welche Horizonte sich neben Leid und Verletzung auftun. Eine Antwort könnte lauten: Wer anders ist als das, was als Maßstab für Normalität gesetzt wurde, hat die Möglichkeit, mehr zu wissen und die Welt anders wahrzunehmen. In dieser Perspektive geht es darum, nicht nur Diskriminierung und Abwertung zu bekämpfen, sondern auch den Blick dafür zu schärfen, was marginalisierte Menschen besitzen, welche Reichtümer an Erfahrung und Wissen sie in die Waagschale legen. Wenn diese Reichtümer offensiv in Umlauf gebracht werden, wird auch klar, dass eine andere, eine plurale Welt nicht eine Utopie ist, sondern dass sie bereits existiert. Die Verbreitung der nicht-normativen Erfahrungen hat Sprengkraft, denn sie beinhaltet weit mehr, als diese Lebensformen neben den geltenden Normen möglich zu machen: Sie bewirkt, dass auch die geltende Norm selbst verändert wird.
Tatsächlich haben jene konservativen Kräfte, die etwa vor einer „Homosexualisierung“ der Gesellschaft warnen oder einer „Feminisierung“, durchaus recht. Ihre Prognosen treffen zu, natürlich! Und das ist gut. Nehmen wir ein Beispiel: Wenn lesbische, schwule, queere Lebensweisen nicht nur als Diskriminierungserfahrung, sondern auch als Reichtum gegenüber heterosexuellen Normen verstanden werden, werden noch viel mehr Menschen den Mut finden, ihre queeren Seiten zu entdecken und auszuprobieren, die Gesellschaft wird tatsächlich „homosexualisiert“. Familienformen, Ehe- und Beziehungsmodelle verändern sich, Sexualität verändert sich. Wenn die Perspektiven und Erfahrungen der sogenannten anderen – Frauen, Migrant:innen, Alleinerziehende, queere, trans- und non-binäre Menschen, intergeschlechtliche Menschen, Menschen mit Behinderung – Relevanz bekommen und dabei auch die Schätze dieser minorisierten Erfahrungen zutage treten, entwickeln die Menschen, die sich mit den vorherrschenden Normen nicht identifizieren, Selbstbewusstsein. Und sie werden sich nicht mehr damit begnügen, ein Stück vom bestehenden Kuchen zu bekommen, sie werden das Rezept verändern und einen anderen Kuchen backen.
Natürlich bedeutet der Ansatz, Differenz als Stärke zu betonen, nicht, Diskriminierung zu leugnen, er geht aber davon aus, dass Diskriminierung und Verletzlichkeit nicht automatisch Hilflosigkeit bedeuten. Frauen waren und sind diskriminiert, gleichwohl sind sie handelnde Subjekte. Weil sie geschlagen oder missbraucht wurden und werden, „nur“ Hausfrauen sind und im Alter ärmer sind als Männer, heißt das noch lange nicht, dass es in ihrem Leben kein selbstbestimmtes Handeln gibt. Es soll an dieser Stelle nicht um ein unkritisches Abfeiern von Vielfalt gehen. Es besteht bei solchen Überlegungen die Gefahr, die Strukturen der Unterdrückung unangetastet zu lassen. Zahlreiche Theoretiker:innen haben darauf hingewiesen, dass Vielfalt schnell vom Markt abgeschöpft, vereinnahmt oder auch angeeignet werden kann. In der Werbung sehen wir immer mehr Menschen of Color, Germany’s Next Topmodel ist ein Transgender-Model, und Unternehmen setzen heute in ihrer Personalpolitik auf Diversität. Auch Menschen mit Behinderung oder dicke Menschen werden zunehmend abgebildet im bunten Vielfaltkapitalismus. Aus kommerzieller Sicht ist Diversität kein Problem, im Gegenteil. Selbst Feminismus lässt sich bis zu einem gewissen Grad vermarkten, H&M verkauft T-Shirts mit der Aufschrift „Feminist“.
Was geschieht, wenn widerständige Positionen und Bewegungen, wenn die Ausgeschlossenen plötzlich mainstreamtauglich werden? Wenn Konzerne, die gleichzeitig ihre Angestellten ausbeuten und in ihren Produktionsketten die Umwelt schädigen, plötzlich Feminismus in ihr Angebot aufnehmen und in ihrer Werbung oder auch bei Angestellten auf Diversität setzen? Feministinnen wie Beate Hausbichler, Andi Zeisler und Nancy Fraser haben wichtige Bücher zur kommerziellen Vereinnahmung des Feminismus und anderer Emanzipationsbewegungen geschrieben. Es ist nicht nur schlecht, dass die Forderungen von Emanzipationsbewegungen irgendwann ein Stück weit Mainstream werden. Auch wenn damit noch nicht der große Systemumsturz erreicht ist. Aber die Abbildung von Diversität in Kultur, Mode und Werbung, vielfältigere Teams und Führungsetagen sind sicher nicht die ganze Lösung, Macht und Ressourcen verteilen sich nicht automatisch an viele, bloß weil einige Frauen es in Führungspositionen von Großunternehmen oder an politische Spitzen schaffen.
Auch die visuelle Integration verschiedener Körper bedeutet noch keine tatsächliche Aufhebung von Gewalt und Ungleichheitsverhältnissen. Gleichzeitig kann diese Art Repräsentation, wie die Filmtheoretikerin Teresa de Lauretis schreibt, ein Einstiegsterrain für Veränderung sein. Sie eröffnet Räume für die Entwicklung neuer Selbstverständnisse. Vorbilder sind wichtig, sie sind gut gegen Minderwertigkeitsgefühle und wirken gegen die eingangs beschriebene Stereotype Threat. Wenn Frauen auf mehr Frauen treffen, People of Color auf mehr People of Color, stärkt das zweifellos ihr Selbstwertgefühl. Forderungen nach Repräsentation und Vielfalt sind also wichtig, aber sie sind nicht die Lösung für alles. Und manchmal können sie sogar systemstützend sein. Zum Beispiel, wenn der falsche Eindruck entsteht, Frauen in Führungsetagen würden bedeuteten, alles sei doch in bester Ordnung, Frauen könnten heute alles erreichen, wenn sie nur wollten. Die Erfolge einzelner Frauen beinhalten auch die Gefahr – so wichtig sie im Einzelnen und Konkreten sein mögen –, die Gesamtsituation verzerrt einzuschätzen: Seht doch, diese und jene Frauen haben es geschafft, dann können es doch alle schaffen! Wenn die Privilegien weniger Frauen mit den Möglichkeiten aller verwechselt werden, bleiben die grundlegenden Machtstrukturen und Ungleichheiten unangetastet.
Kaum einer Tagelöhnerin im Silicon Valley geht es wirklich besser, nur weil es Frauen in die Vorstände von Technikkonzernen schaffen. So wie es keiner Frau aus der britischen Arbeiterschicht besser geht, weil einst Margaret Thatcher Premierministerin war. Der Trickle-Down-Effekt, die Hoffnung, dass Macht sich automatisch von oben nach unten verteilt, ist ein neoliberaler Mythos. Seit Jahrzehnten warten und hoffen wir auf Trickle Down, aber Wohlstand und Macht sickern nicht von alleine nach unten, eher das Gegenteil ist der Fall: Sie verteilen sich auf immer weniger Menschen. Meist auf jene, die bereits privilegiert sind. Trickle-Down-Ideen sind das Schmiermittel der Fortschrittsideologie, sie sind der hingehaltene kleine Finger, der Frauen in einen täuschenden Zustand der guten Hoffnung und vermeintlichen Wertschätzung versetzt, der sie glauben macht, dass ein Leben, wie Sheryl Sandberg es führt, für alle Frauen möglich ist. Wenn sie sich nur genug anstrengen.
Es scheint mir wichtig zu reflektieren, dass es keine umfassend richtige Politik oder Strategie gibt, um gegen Diskriminierung, Herabsetzung und Ungerechtigkeit vorzugehen. Jede Auflehnung gegen die vorherrschenden Verhältnisse oszilliert immer zwischen Widerstand und Komplizenschaft mit dem System und läuft immer auch Gefahr, Normen zu reproduzieren oder neue Ausschlüsse zu generieren. Es gibt keine reine und umfassend gute widerständige Position oder Identität außerhalb von Macht, und es gibt auch keine unschuldige, rundum gute Sicht der Ausgeschlossenen und Minderheiten, die es einfach zu integrieren gälte.
Zum einen gibt es auch bei marginalisierten Menschen problematische Sichtweisen oder Ausschlüsse. Auch Frauen sind Täter:innen, können homosexuellenfeindlich, rechtsextrem, transfeindlich sein. Migrant:innen können sexistisch oder rassistisch auftreten, Schwule frauenfeindlich. Auch problematische Einstellungen unter marginalisierten Menschen muss man reflektieren und zum Thema machen. Und nicht zuletzt sind Marginalisierte selbst extrem heterogen. Es gibt nicht eine einheitliche Perspektive von Frauen, queeren Menschen, Migrant:innen, People of Color oder Armen. Deshalb gilt es, solchen erneuten Gruppen-Grenzziehungen zu widerstehen, sonst laufen wir Gefahr, die kategorisierende Logik des Patriarchats zu wiederholen. Auch kann ein und dieselbe Person auf der einen Seite, zum Beispiel als schwuler Mann, Diskriminierung und Gewalt erfahren, auf der anderen Seite, etwa als Mann, aber gewisse Vorteile genießen. Ein und dieselbe Person ist je nachdem Profiteur und Diskriminierte in einem.
Es kann in Antidiskriminierungskämpfen deshalb nicht um die Herstellung neuer, fester Identitäten und Grenzziehungen gehen. Denn es gibt nicht die eine Perspektive, die alle eint und alle verkörpern können und sollen. Die Diversitätsforscherin Maisha-Maureen Auma plädiert für politische Mehrfachstrategien, nämlich dafür, um die Anerkennung von bestimmten Erfahrungen und Identitäten zu kämpfen und gleichzeitig diese auch zu dekonstruieren, Grenzziehungen zu hinterfragen: „Ich plädiere für die gleichzeitige Anwendung mehrerer Strategien, die einander sowohl widersprechen als auch kritisch ergänzen können. Mal müssen Gruppengrenzen bewusst gezogen werden, um gemeinsame Erfahrungen von Entwertung und Dehumanisierung sichtbar zu machen. Ein anderes Mal müssen die gesellschaftlichen Grenzen dekonstruiert werden, um die Logik des Eingeteilt-Werdens zu durchkreuzen. Was wir brauchen, ist eine spannungsreiche Zusammenarbeit verschiedener Gerechtigkeitsparadigmen.“
Das Ziel sollte sein, ein andauerndes Unbehagen zu pflegen in Bezug auf die eigene politische und biografische Positionierung. Man muss den Versprechungen einer identitären Heimat widerstehen und letztlich in sich selbst unbewohnbar bleiben, wie die Theoretikerin Sara Ahmed schreibt.
Das könnte – übrigens für alle Menschen – befreiender sein, als es sich im ersten Moment anfühlen mag.