Die Wende zum Weniger

Spaßverlust oder Lebensfreude – Überleben auf einem Planeten mit immer mehr Menschen

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PICTURE ALLIANCE/ZOONAR | ZDEN?K MAL
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Die Wende zum Weniger

Spaßverlust oder Lebensfreude – Überleben auf einem Planeten mit immer mehr Menschen

Die Menschheit befindet sich in einer multiplen, im Wesentlichen selbst verursachten Problemlage: Die Corona-Pandemie zeigt wenig Anzeichen, sich aus unserem Alltag zu verabschieden. In den ärmeren Ländern beginnt das Sars-CoV-2 überhaupt erst zu wüten, und dort findet es auch die besten Bedingungen vor, um neue, womöglich noch gefährlichere Varianten auszubrüten. Der Klimawandel zeigt seine ersten, im Vergleich zu dem, was noch kommen wird, harmlosen Auswirkungen. Die Vermüllung und Überfischung der Ozeane geht unvermindert weiter. Sie bedrohen, kombiniert mit der Meereserwärmung, eines der wichtigsten Ökosysteme des Planeten und damit die Ernährungsgrundlage vieler Menschen. Die ist ohnehin gefährdet, weil in der Vergangenheit bereits die Hälfte der fruchtbaren Ackerkrume weltweit verloren gegangen ist. Dem globalen Kahlschlag an den Ökosystemen fallen jährlich 10 000 bis 100 000 Arten zum Opfer. Genauer lässt sich die Zahl nicht beziffern, weil viele der Tier- und Pflanzenspezies, die ins Jenseits gehen, noch gar nicht katalogisiert sind. Und jene Spezies, die für all dies verantwortlich ist, hat sich im vergangenen Jahr um rund 80 Millionen Exemplare vermehrt.

Dass unter diesen Bedingungen neue, zuvor unbekannte Infektionskrankheiten immer wahrscheinlicher werden, ist ein interessanter Nebeneffekt. Denn Menschen und Tiere, die sich unter natürlichen Bedingungen nie begegnen würden, kommen sich immer näher. In Tieren leben nach Schätzungen 1,7 Millionen unterschiedliche Viren als ständige Begleiter. Sie sind meist harmlos, können aber, wenn sie auf einen neuen Wirt, etwa den Menschen, übersiedeln, verheerende Wirkungen haben – siehe Sars-CoV-2. Sie können sich auch Hühner, Schweine oder Nerze als neue Zwischenwirte suchen, von denen es bis zum Menschen nur ein kurzer nächster Schritt ist. Fast acht Milliarden Menschen mit geschätzten 25 bis 30 Milliarden Nutztieren sind der Jackpot für jeden Parasiten. Es ist also nicht die Frage, ob uns in absehbarer Zeit eine nächste Pandemie droht, sondern nur, wann und wo es geschehen wird. Hinter dieser Multiproblematik stecken zu viele Menschen, die zu viel wollen, mit anderen Worten: eine doppelte Überbevölkerung.

Die doppelte Überbevölkerung

Die erste Form der Überbevölkerung zeigt sich dort, wo mehr Menschen heranwachsen, als angemessen mit Schulen und Gesundheitsdiensten versorgt werden können, mit Nahrung und sauberem Trinkwasser, mit einem Dach über dem Kopf und einer funktionierenden Verwaltung. Vor allem mit Jobs, die ein angemessenes Einkommen und ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Wo das nicht gelingt, wächst die Unzufriedenheit, soziale Unruhen und politische Konflikte werden wahrscheinlicher. Die Chance, dass in diesen Ländern stabile, am Gemeinwohl der Bevölkerung interessierte oder gar demokratische Regierungen entstehen, ist gering. Tatsächlich wächst insbesondere in Regionen mit hohem Bevölkerungswachstum die Zahl der instabilen und gescheiterten Staaten. Viele Menschen bleiben arm, und arme Menschen in armen Ländern haben viele Kinder. Ein fataler Kreislauf.

Niemand weiß, wie die Regionen mit dem stärksten Bevölkerungszuwachs zu einer nachhaltigen und friedlichen Entwicklung kommen können. Nigeria hat den Voraussagen zufolge bis 2050 mit über 400 Millionen Menschen und einer Bevölkerungsdichte wie heute in den Niederlanden zu rechnen. Niger, eines der ärmsten Länder der Welt, das zu weiten Teilen aus Wüste besteht, muss bis Mitte des Jahrhunderts fast dreimal so viele Menschen ernähren wie heute. Fünf Länder in Afrika werden dann die 100-Millionen-Einwohnerschwelle überschritten haben.

Auch wenn sich das weltweite Bevölkerungswachstum seit den 1960er-Jahren von 2,1 auf heute gut ein Prozent halbiert hat, bleibt das Mehr an Menschen ein zentrales Problem: Denn weil sich deren Zahl in den vergangenen 50 Jahren auf fast acht Milliarden verdoppelt hat, bedeutet ein halbiertes relatives Wachstum in absoluten Zahlen einen konstanten Zuwachs von über 80 Millionen pro Jahr. Und der findet ausgerechnet dort statt, wo die Menschen schon heute zu wenig zum Leben haben.

Überbevölkert in Sachen Konsum

Aber es gibt, neben der „klassischen“ Form der Überbevölkerung eine zweite Form, die weit schlimmere Folgen hat: Sie zeigt sich dort, wo die Einwohnerzahlen kaum mehr steigen oder gar zurückgehen, nämlich im reichen und gut entwickelten Teil der Welt, unter anderem in Deutschland. Dort verbrauchen die Menschen deutlich mehr Rohstoffe, als die natürlichen Systeme nachliefern können, und sie hinterlassen Müll in jeder Form in einer Menge, die kein Ökokreislauf bewältigen kann. Solche Gesellschaften sind, gemessen an ihrem Lebenswandel, überbevölkert, weil dieser nicht dauerhaft tragbar ist. Kohlendioxid aus dem Verbrennen fossiler Brennstoffe ist das prominenteste, aber längst nicht einzige Beispiel für die Abfallstoffe des Überkonsums. Kohle, Öl und Erdgas sind das Fundament unseres heutigen Wohlstands. Sie befeuern den Klimawandel, der sich ausgerechnet dort am schlimmsten auswirkt, wo die Bevölkerungen stark wachsen und die schlechtesten Anpassungsmöglichkeiten haben. Wo die Ernährungslage kritisch ist und die Regierungen instabil sind.

Bei den genannten Krisen handelt es sich somit nicht mehr nur um Einzelprobleme, sondern um Herausforderungen, die längst begonnen haben, auf komplexe Weise miteinander zu wechselwirken. Dabei entstehen neue Probleme, mit denen auch hochentwickelte Gesellschaften überfordert sind. Kurz – und stark vereinfacht – gesagt: Die wohlhabenden Staaten produzieren die Treibhausgase für den Klimawandel und bekommen im Gegenzug die Klimaflüchtlinge, deren sie verzweifelt versuchen mit Stacheldraht und Frontex-Einsätzen Herr zu werden.

Wie kommt man vom Wissen zum Handeln?

Keine dieser Krisen kam ohne Vorwarnung. Menschen sind gut in wissenschaftlichen Vorhersagen, im Bau von Szenarien und der Entwicklung von Lösungsvorschlägen. Aber sie sind schlecht in der Umsetzung. Nie war das Wissen um globale Zusammenhänge größer als heute, aber es scheint, als schwinde die Handlungsfähigkeit in dem Maß, wie das Wissen zunimmt. Gerade erst hat die Internationale Energieagentur vermeldet, dass die Kohlendioxid-Emissionen 2023 einen neuen Höchststand erreichen dürften.

Aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger müssten angesichts der Lage ebenso verzweifeln wie die internationalen Organisationen aus der UN-Familie. Aber Menschen sind in der Regel keine Pessimisten, sonst hätten sie als Spezies keine vier Millionen Jahre durchgehalten. Auch heute gilt: Theoretisch ist Raum für Optimismus. Wir könnten die aufgestauten Probleme zwar nicht mehr wirklich „lösen“, aber wir könnten sie irgendwie bewältigen und mit einem oder zwei blauen Augen davonkommen.

So ließe sich das Überbevölkerungsproblem Nummer 1 vergleichsweise einfach auf menschenfreundliche Weise eindämmen und die Zahl der Menschen mittelfristig auf neun oder zehn Milliarden begrenzen. Dazu gibt es die empirische Erfahrung aus der Mehrzahl aller Länder: Wo es in armen Ländern gelingt, die Gesundheitsversorgung zu verbessern und die Kindersterblichkeit zu senken, versuchen die Menschen, die Familiengröße zu begrenzen. Wo sich Bildung ausbreitet, insbesondere unter Mädchen, und wo Frauen mehr Rechte erlangen, sinken die Kinderzahlen rapide. Und wo auskömmliche Arbeitsplätze entstehen, gewinnt die Familienplanung an Bedeutung. Das einstmals hoffnungslose Bangladesch konnte mit diesen drei Kerninstrumenten der Entwicklung die Geburtenziffer von fast sieben auf zwei Kinder je Frau reduzieren – in nicht einmal 50 Jahren.

Wachstum ohne Kollateralschäden ist nicht möglich

Ungleich schwieriger ist es, die konsumbedingte Überbevölkerung der reichen und auch der aufstrebenden Länder zu bewältigen. Um die Folgen des Klimawandels einigermaßen zu begrenzen, müsste die Weltwirtschaft, die heute noch zu über 80 Prozent auf fossilen Energiequellen fußt, runter auf netto null Treibhausgas-Emissionen. Dass sich die dafür notwendige „Energiewende“ allein mit technischen Mittel bewältigen lässt und den Menschen ein nachhaltiges Dasein ermöglicht, ist allerdings kaum zu erwarten. Denn der Umbau erfordert gewaltige Infrastrukturen, mit Stahltürmen, Betonfundamenten, Kupferleitungen, Siliziumzellen, Lithiumspeichern und den üblichen Folgeschäden an der Umwelt. Selbst wenn es gelänge, die Menschen komplett mit „grüner“ Energie zu versorgen, dann soll daraus ja „grünes“ Wirtschaftswachstum entstehen. Und das bedeutet, weiterhin mehr Güter und Dienstleistungen herzustellen und zu konsumieren, was wiederum nicht ohne Ressourcen- und Naturverbrauch möglich ist. Wirtschaftliches Wachstum, welcher Farbe auch immer, hat einen Mehrerwerb von Geld zur Folge, das letztlich in Investitionen für weiteres Wachstum oder in irgendeine Form von Konsum mündet. Nachhaltiges Wachstum sei ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich, hat Hubert Markl, der langjährige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, einmal angemerkt.

Erst schlechter, bevor es besser werden kann

Deshalb bleibt der Weg zur Nachhaltigkeit ohne eine zweite Säule verbaut. Zumindest in den Industrie- und Schwellenländern bedeutet das Suffizienz. Kurz gesagt: weniger von allem. Suffizienz bedeutet, Energie und Material gar nicht erst zum Einsatz kommen zu lassen. Suffizienz steht für Verzicht, Einschränkung, Bescheidenheit – was für die meisten Menschen Spaßverlust bedeutet und politisch kaum durchzusetzen ist. Ohnehin wird sich derzeit keine Regierung für weniger Konsum starkmachen. Suffizienz ist das Letzte, was nach der Coronakrise, vor der Komplettverrentung der Babyboomer in den Industrieländern und zum Klimaschutz wie auch zur Bewältigung der Klimafolgen angesagt ist. All das kostet ein Heidengeld, und das kommt nur durch Wirtschaftswachstum in die Staatskassen.

Die eigentlichen Fragen angesichts einer doppelten Überbevölkerung geraten dabei völlig in den Hintergrund: Wie lässt sich das Wohlergehen der reichen und aufstrebenden Gesellschaften der Welt ohne Wachstum sichern? Und wie verschafft man den armen Ländern die Möglichkeiten, sich zu entwickeln, also wirtschaftlich aufzuholen, um damit das Bevölkerungswachstum zu bremsen? Das ist zwar mit weniger Ressourcenverbrauch und Emissionen möglich, als es einst die Industrieländer vorgemacht haben, aber keinesfalls komplett ohne neue Umweltschäden.

Wer angesichts dieser Herausforderungen weiterhin optimistisch in die Zukunft blicken will, sollte realistisch sein: Auch im besten Fall wird es erst einmal schlimmer, bevor es sich zum Guten wendet.

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