Hiroshima mahnt: Nuklearwaffen bleiben eine reale Gefahr
Hiroshima mahnt: Nuklearwaffen bleiben eine reale Gefahr
Angesichts von Cyberattacken und Berichten über neue Weltraumwaffen mögen der jüngeren Generation die vor 75 Jahren, im August 1945 über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Atomwaffen wie eine Art Dampfradio des Militärischen vorkommen. Doch dies ist ein gefährliches Missverständnis.
Denn mit Kernwaffen lassen sich prompt und auf einen Schlag Großstädte weitgehend auslöschen. Daher hatte der damalige US-Präsident Barack Obama in seiner vielbeachteten Rede vom April 2009 vor der Prager Burg das hehre Ziel der Abschaffung aller Nuklearwaffen vorgegeben. Doch blieb Obama Realist: Solange Kernwaffen in der Welt existierten, müssten die USA über ein entsprechendes effektives Arsenal verfügen, um jeden Gegner abschrecken zu können. In der Tat bleibt eine atomwaffenfreie Welt ein fernes Ziel. Dessen Verwirklichung ist aber höchst unwahrscheinlich. Solange es kein Überwachungssystem gibt, das zweifelsfrei sicherstellt, dass kein Staat im Verborgenen Kernwaffen vorhält oder daran arbeitet, neue herzustellen, wird sich kein verantwortungsbewusster Staatenlenker auf eine völlige nukleare Abrüstung einlassen. Dies kann jedoch nicht bedeuten, sich schulterzuckend darauf zu verlassen, dass die nukleare Abschreckung auch in den kommenden Jahrzehnten schon irgendwie funktionieren wird. Im Gegenteil: Gelingt es nicht, die während des Kalten Krieges wenigstens teilweise erfolgreiche nukleare Rüstungskontrolle wiederzubeleben, drohen weitere Hiroshimas. Sie würden dieses Mal indes noch sehr viel mehr Schaden anrichten.
Die Grundidee des am Ende der 1950er- und zu Beginn der 1960er-Jahre Jahre in den USA entwickelten Konzepts der Rüstungskontrolle ist einfach. Im Nuklearzeitalter dürfen nicht nur die eigenen Sicherheitsinteressen im Vordergrund stehen, sondern müssen auch die Interessen des Gegenübers Berücksichtigung finden. Steht der Gegner in einer Krise unter dem Druck, seine Kernwaffen frühzeitig einzusetzen, um sie nicht zu verlieren, bedeutet dies Kriseninstabilität. Daran hat niemand Interesse. Mit anderen Worten: Gemeinsame Sicherheit ist im Atomzeitalter das Gebot der Stunde. Seit der 1962 nur mit einigem Glück überstandenen Kubakrise bemühten sich daher Washington und Moskau in vielfältigen Verhandlungen und Verträgen um die Zähmung des atomaren Dämons.
Die nukleare Rüstungsdynamik wurde dadurch zwar nie völlig überwunden. Immerhin wurden aber strategische Kernwaffen zahlenmässig begrenzt, Raketenabwehrsysteme fast vollständig verboten, und gegen Ende des Kalten Krieges gelangen bis dahin nicht für möglich gehaltene Durchbrüche: Der INF-Vertrag von 1987 über das vollständige beiderseitige Verbot landgestützter Mittelstreckenwaffen bildete den Höhepunkt. Vor allem war der ununterbrochene, jahrzehntelange Verhandlungsprozess in sich selbst eine vertrauensbildende Maßnahme. Beide Seiten lernten die Denkweisen der jeweils anderen Seite besser kennen. Selbst den verstocktesten Kreml-Ideologen dämmerte es im Zuge dieses nuklearen Gesprächsmarathons, dass – anders als es die marxistisch-leninistische Theorie vorgab – der Sozialismus keineswegs in einem Dritten Weltkrieg gesetzmäßig der Sieger wäre. Vielmehr wäre das Resultat eine unvorstellbare Zerstörung; einen Sieger gäbe es nicht.
Und heute? Im Bewusstsein vieler aktuell politisch Verantwortlicher verblasst der Schatten von Hiroshima. Auch die Kubakrise ist für sie wohl höchstens eine historische Erinnerung, kein Menetekel, das dazu auffordert, künftig ähnliche Krisen möglichst zu vermeiden. Die während des Kalten Krieges mühsam errichtete Rüstungskontrollarchitektur wird derzeit nach und nach abgerissen. Nur noch das New-START-Abkommen über die Begrenzung amerikanischer und russischer stationierter strategischer Atomwaffen existiert noch – bis zum 5. Februar 2021. Einigen sich beide Seiten bis dahin nicht auf eine vertraglich mögliche Verlängerung des Abkommens, stehen wir das erste Mal seit 1972 rüstungskontrollpolitisch mit leeren Händen da.
Vielleicht liegt darin gleichwohl sogar eine Chance, wenn es gelingt, eine neue Rüstungskontrollarchitektur aufzubauen, die sich den Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts anpasst. Die Probleme, vor denen wir heute stehen, unterscheiden sich nämlich erheblich von denen des Kalten Krieges. Heute geht es nicht mehr nur um die USA und Russland, vielmehr müssen China und weitere nukleare Akteure wie Indien und Pakistan, aber auch die beiden europäischen Kernwaffenmächte Frankreich und Großbritannien in die nukleare Rüstungskontrolle eingebunden werden. Peking mag mit seinen Atomwaffen noch weit vom Umfang der russischen und amerikanischen Nukleararsenale entfernt sein, aber es rüstet mittlerweile kräftig auf. Auch spitzt sich der amerikanisch-chinesische Konflikt zu, und Atomwaffen sind ein Teil davon. Zugleich befindet sich China in Konfrontation zu Indien, das seine eigenen nuklearen Planungen immer mehr an der Bedrohung aus Peking ausrichtet, während sein Nachbar Pakistan vollständig auf eine nukleare Abschreckung seines südasiatischen Nachbarn fixiert ist. Und in Europa mag man zu Recht über eine sich von den USA unabhängig machende nukleare Abschreckung nachdenken. Diese kann aber bei hoffentlich stattfindenden neuen nuklearen Rüstungskontrollbemühungen nicht einfach außen vor bleiben.
Doch nicht nur müsste Rüstungskontrolle multilateral werden. Darüber hinaus gilt es, eine Vielzahl nicht-nuklearer Technologien einzubeziehen, die eine wachsende Bedeutung für die strategische Stabilität haben. Dazu gehören Cyberwaffen ebenso wie Weltraumsysteme, konventionelle Präzisionswaffen oder auf künstlicher Intelligenz beruhende Anti-U-Boot-Verfahren. Im Vergleich zu diesen ungeheuer dynamischen technologischen Entwicklungen wirkt die gute alte Atomwaffe tatsächlich wie das Dampfradio des Militärischen. Dennoch bleibt die Kernaufgabe, die uns seit dem August 1945 gestellt ist, die gleiche: Durch Dialog, durch Rüstungskontrolle und das Sich-in-den-Anderen-Hineindenken auch künftig eine atomare Katastrophe zu verhindern.