Die Zaghafte

Angela Merkel hatte den nächsten Integrationsschritt Europas auf dem Fuß – der Ball ging ins Aus

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PICTURE ALLIANCE/ABACA | BLONDET ELIOT
Was hätte sein können – Angela Merkel diese Woche noch einmal zu Besuch bei Emmanuel Macron in Paris.
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PICTURE ALLIANCE/ABACA | BLONDET ELIOT
Was hätte sein können – Angela Merkel diese Woche noch einmal zu Besuch bei Emmanuel Macron in Paris.

Die Zaghafte

Angela Merkel hatte den nächsten Integrationsschritt Europas auf dem Fuß – der Ball ging ins Aus

Der Euro stand auf der Kippe in der Hochphase der europäischen Schuldenkrise vor einem Jahrzehnt und damit wohl das gesamte europäische Einigungsprojekt, wie es bisher war: In dieser Nacht im Brüsseler EU-Ratsgebäude schauten die Journalistinnen und Journalisten auf ihre Smartphones und überlegten, welche Börse in Asien wohl als erste öffnet, wo die finale Spekulationswelle gegen die europäische Einheitswährung anrollen könnte.

Dann war Abstimmung unter den EU-Staats- und Regierungschefs und die Lösung stand. Die EU gründete eine weitere Agentur, diesmal um international Geld aufzunehmen, für dessen Rückzahlung die Mitgliedsstaaten einzeln nach ihrem EU-Anteil garantierten. Heute ist das der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) in Luxemburg, ein weiteres verkrampftes Konstrukt, das den eigentlich anstehenden Schritt Europas, die vergemeinschaftete Schuldenaufnahme der Eurozone, verhindern sollte. Die Gründung der Agentur wurde verbunden mit demokratisch wenig legitimierten Sparauflagen für den verschuldeten Süden der EU.

In den Brüsseler EU-Gängen wurde schnell klar, dass es eine hauchdünne Abstimmung war. Die Möglichkeit der weiteren Integration, so wie es Jacques Delors, der EU-Kommissionspräsident der 1980er-Jahre, und wohl auch Helmut Kohl bei Gründung des Euro einmal vor Augen hatten, – war vertan. Dieser Schritt wäre der erste gewesen, auf den sehr schnell weitere hätten folgen müssen: eine vergemeinschaftete Wirtschafts- und Sozialpolitik, gemeinsame EU-Steuern und vieles mehr. Doch es war Angela Merkel, die deutsche Bundeskanzlerin, die zögerte und den Weg der Verkrampfung wählte, nicht den der Befreiung.

Die – doch etwas ferne – Stunde der Historiker

Für jeden Europa-Zeithistoriker dürften die Brüsseler Akten aus dieser Zeit, die in 20 Jahren zur Freigabe anstehen, ein Festmahl werden. Sie werden die Grundlage der Spurensuche sein, um die zentrale Frage von Merkels Europapolitik zu beantworten: Warum wurde diese Chance im Sinne der weiteren Integration Europas vertan?

International werden seit Wochen viele Lobeshymnen auf die 16 Jahre lang regierende Kanzlerin angestimmt. Doch seit Kurzem mehren sich die kritischen Stimmen, sehr zu Recht. Timothy Garton Ash wird diese Woche im New Statesman mit den Worten zitiert: „Sie hatte die Chance die Deutschen zu überzeugen, dass jetzt die Eurozone fit gemacht werden muss für das 21. Jahrhundert, sie hat sie nicht genutzt. Es war einer dieser Moment an dem die (deutsche) Kanzlerin außergewöhnliche Macht hatte zu führen, doch sie hat diese Chance verstreichen lassen und ließ zu, dass sich das Narrativ vom faulen, korrupten Süden, der den tugendhaften Norden ausbeutet, in der deutschen öffentlichen Meinung und Politik etabliert.“

Zehn Jahre später hat ein Virus Europa dazu gezwungen, diesen Schritt der vergemeinschafteten Schulden zumindest ein klein wenig zu gehen, mit dem Corona-Hilfsfonds der EU-Kommission. Doch was wäre wohl gewesen, wenn die Eurozone „fit“ in diese epochale Gesundheitskrise gegangen wäre?

Generation des Kleinmuts

Zahlen lügen nicht und es wird seit Monaten deutlich, dass die Covid-19-Pandemie vor allem in den lateinischen Ländern im Süden Europas tötet. Der Zusammenhang mit krank gesparten Gesundheitssystemen dort ist offensichtlich. Wenn aber Menschen sterben in einer Gemeinschaft, die auf den Gräbern der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts zusammengefunden hat, um Frieden und die Unversehrtheit des Lebens auf dem europäischen Kontinent zu sichern, wenn diese Menschen als Folge unsolidarischen Handelns sterben – dann steht die Zukunft dieses europäischen Projektes in Frage.

Angela Merkel gehört dieser Generation an, die von den Jungen in den sozialen Medien gemeinhin nur noch als „Boomer“ bezeichnet wird. Eine Generation des Kleinmuts, die spitz die Ellenbogen ausfährt, wenn es um den Selbsterhalt geht. Der Spiegel hat zuletzt analysiert, dass es für die großen Schritte in der Politik Gefühl und Empathie braucht. Kanzler Kohl wurde immer wieder attestiert, dass er es mit diesem Wesenszug oft übertrieben habe, so auf den Gräbern von Verdun in der Erinnerung an diesen für ihn glückseligen Moment, als sich die Grenzbalken an der deutsch-französischen Grenze einst öffneten. Doch Europa ohne das Pathos des Trompeters von Ypern zu denken, von Städtepartnerschaften, der Liebe, die gefeiert wird, wenn sich die Jungen im deutsch-französischen Jugendwerk zusammenfinden, ist eben nicht das Europa, das sich die Befürworter des europäischen Einigungswerks wünschen – bei allem Pragmatismus, jene Note Geschichtsbewusstsein gehört zum europäischen Projekt dazu. Und es geht in der wirklich großen Politik nicht ohne Ziel, wie der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler es zuletzt in der Corona-Pandemie wieder ganz auf Grundlage Max Webers durchdeklinierte: Nur wer das Ziel in der Ferne anpeilt, kann zielstrebend die richtigen Entscheidungen auf einem langen Weg treffen.

Warten auf die Antwort

Europa, seine Europäische Union und die Eurozone stehen nach 16 Jahren schlechter da als vor der Kanzlerschaft von Angela Merkel. Nationale Diskurse beherrschen die politische Agenda. In diesem Bundestagswahlkampf dreht es sich um kaum etwas anderes als um das Kleinklein deutscher Nabelschau. Aber auch in Frankreich, wo kommendes Jahr gewählt wird, dreht sich kaum noch ein Diskurs um das europäische Projekt. Dabei hat es viele Chancen gegeben, Europa einen großen Schritt voranzubringen und im Wettbewerb zwischen China und den USA im Spiel zu halten. Die Bundeskanzlerin hat keine dieser Chancen genutzt. Eine Antwort auf den Zielentwurf, den Frankreichs junger Präsident Emmanuel Macron in seiner europapolitischen Grundsatzrede an der Pariser Sorbonne beschrieben hat, gab es nie.

20 Jahre Zeit für die große historische Betrachtung, was genau schieflief, sind dann politisch doch eine zu lange Zeit. Wir müssen die tieferen Gründe jetzt verstehen, um einen neuen Anlauf zu wagen. Die Welt wartet nicht.

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