Durchregieren geht auf den Magen

Die komplizierten Machtverhältnisse im Bundesrat begrenzen die Handlungsfähigkeit der Ampel

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Durchregieren geht auf den Magen

Die komplizierten Machtverhältnisse im Bundesrat begrenzen die Handlungsfähigkeit der Ampel

Die deutsche Stimmungslage wirkt unentschieden: Zum einen ist die Nachfrage nach politischer Handlungsfähigkeit groß. Das zeigen Forderungen nach mehr Tempo bei der Planung von Infrastruktur­projekten ebenso wie die aktuelle Enttäuschung über ein bislang nicht eingelöstes Wahlversprechen („Wer bei mir Führung bestellt, …). Andere hingegen interpretieren jedes Tätigwerden der Regierung, das ihrer eigenwilligen Interpretation von Freiheitsrechten widersprechen könnte, als Indiz für die endgültige Demaskierung der angeblichen bundesdeutschen Diktatur. Sowohl bei chronischer Ungeduld als auch bei ersten Anzeichen beginnender Telegram-Verblendung lohnt die Befassung mit einer Besonderheit bundesdeutscher Verfassungspolitik: Im Unterschied zu anderen europäischen Regierungssystemen fällt in Deutschland die Regierungsmehrheit häufig nicht mit der Gesetzgebungsmehrheit zusammen.

Als der Parlamentarische Rat 1948/49 über das Grundgesetz beriet, bestand Einigkeit: Machtkonzentration hatte sich als fatal erwiesen, und am wirksamsten werde sie durch gewaltenhemmende Mechanismen verhindert. Dieser Einsicht, aber auch deutscher Verfassungsgeschichte, verdanken wir unter anderem den Bundesrat. Durch ihn wirken die Länder laut Artikel 50 GG bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes sowie in Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Dennoch gehört zu den Konstanten jedes Regierungs­wechsels im Bund die Vorfreude der Neuen auf das „Durchregieren“. Dass selbst Angela Merkel diesen Begriff anlässlich der parlamentarischen Aussprache am 1. Juli 2005 über die Vertrauensfrage des damaligen Noch-Bundeskanzlers Gerhard Schröder verwendete, der auf diesem Weg die Auflösung des Bundestages anstrebte, hätte man nach 16 Amtsjahren nicht mehr in Erinnerung gehabt. Sie hatte damals auch erklärt, worauf jeder Versuch des Durchregierens angewiesen ist: auf die „klaren Verhältnisse im Bundestag und im Bundesrat“. Diese herzustellen, war sogar eine der Begründungen, warum CDU/CSU und SPD im Jahr 2005 die zweite Große Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik eingingen.

Allzu lang hielt der farbliche Gleichklang von Bundestags- und Bundesratsmehrheit damals aber nicht an: Die Zweidrittelmehrheit großkoalitionärer Landesbündnisse ging im Bundesrat ab Herbst 2007 verloren, und im Februar 2009 führten die schwarz-roten bzw. rot-schwarzen Länder sogar nur noch eine Minderheit der Stimmen im Bundesrat.

In politisch übersichtlichen Zeiten wäre an dieser Stelle der Hinweis gefolgt, dass die aktuelle Bundesregierung auf den gegenläufigen Trend setzt: also auf Wahlerfolge der Ampel bei den vier Landtagswahlen (Saarland, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen) im Jahr 2022 und den drei im Jahr 2023 (Bremen, Bayern, Hessen) und damit auf mehr rot-grün-gelb im Bundesrat. So einfach sind die parteipolitischen Verhältnisse aber nicht. Die Debatten über Impfpflicht, Nord Stream 2 sowie die voraussichtliche Einstufung von Kernenergie und (russischem) Gas durch die EU als „nachhaltige“ Energieträger verweisen auf die zentrifugalen Kräfte im Dreierbündnis, die von den frohen Aufbruchsbekundungen beim Antritt der Bundesregierung lediglich vorübergehend eingehegt wurden. Während die Grünen künftige Koalitionsentscheidungen in den Ländern angesichts des Drucks der eigenen Basis davon abhängig machen werden, in welchem Bündnis sie ihre klimapolitischen Ziele am besten umsetzen können, ist von den Liberalen koalitionstaktische Raffinesse zu erwarten: Da die Partei nie mehr „Anhängsel“ sein will – weder von SPD und Grünen noch von der Union – würde es der FDP gelegen kommen, wenn die Ergebnisse der 2022 anstehenden Landtagswahlen der Partei nicht nur möglichst viele, sondern auch vielfältige Optionen für eine Regierungsbeteiligung böten.



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Jedoch: Angesichts der anhaltenden Schwäche der CDU sind die Aussichten auf eine Fortsetzung der schwarz-gelben Koalition in Nordrhein-Westfalen zumindest im Augenblick nicht gut, und auch in Schleswig-Holstein zeichnet sich eher eine Mehrheit für eine Ampelkoalition als für die Fortsetzung der aktuellen Jamaikakoalition ab. Bunt wird der Bundesrat also auch nach dem Landtagswahljahr 2022 bleiben, aber die Zahl der deckungsgleichen Koalitionspaare könnte sich verdoppeln. Diese Prognose ist schon deshalb nicht gewagt, weil es derzeit nur eine einzige Konstellation gibt, die in zwei Ländern auftritt: In den Stadtstaaten Berlin und Bremen ist jeweils eine rot-grün-rote Regierung im Amt. Alle anderen 14 Landesregierungen unterscheiden sich – und sei es auch „nur“ hinsichtlich der Stärke der Koalitionspartner und damit der Besetzung des Ministerpräsidenten­amtes. Aus Sicht der Bundesregierung und der sie stützenden Bundestagsmehrheit macht die Koalitionsvielfalt in den Ländern Rücksichtnahme und viele Absprachen erforderlich.

Der Anteil der Bundesgesetze, für deren Zustandekommen die explizite Zustimmung des Bundesrates erforderlich ist, sank seit der Föderalismusreform von 2006 zwar deutlich und lag in der vergangenen 19. Wahlperiode nur noch bei knapp 38 Prozent. Dennoch wird die Ampel-Regierungsmehrheit, um auch über die Gesetzgebungsmehrheit zu verfügen, regelmäßig auf die Stimmen von Ländern angewiesen sein, in denen CDU oder CSU an der Regierung beteiligt sind. Statt „durchregieren“ also weiterhin föderale Konsenssuche. Mit Blick auf die Geschwindigkeit der Gesetzgebung mag man das bedauern. Aber für diejenigen, die wider die Fakten Diktaturgefasel verbreiten, ist die Nachricht noch schlechter.

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