Durchzählen bitte! Und dann gleich noch einmal

„Datenhexer“, „moderne Orakel“, „Auguren der Neuzeit“ – über den Boom der Wahlumfragen

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PICTURE-ALLIANCE/DPA/HEINRICH SANDEN
Schon wieder eine Umfrage begutachtet? Otto Graf Lambsdorff, 1984
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PICTURE-ALLIANCE/DPA/HEINRICH SANDEN
Schon wieder eine Umfrage begutachtet? Otto Graf Lambsdorff, 1984

Durchzählen bitte! Und dann gleich noch einmal

„Datenhexer“, „moderne Orakel“, „Auguren der Neuzeit“ – über den Boom der Wahlumfragen

Meinungsforscher manipulieren ihre Ergebnisse, sie liegen mit ihren Analysen daneben, sie beeinflussen die öffentliche Meinungsbildung – solche Vorwürfe wiegen schwer. Und die geforderten Konsequenzen sind hart: Es sollte verboten werden, Wahlumfragen vor Wahlen zu veröffentlichen.

Vor Bundestagswahlen vergeht kaum ein Tag ohne neue Umfrageergebnisse. Welche Partei liegt in der Wählergunst vorne, wer holt auf, wer fällt zurück? Wie schneiden die Spitzenkandidaten ab? Vor allem aber die Sonntagsfrage: „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahlen wären?“ Seit 1980 hat sich die Berichterstattung über Wahlumfragen vor Bundestagswahlen mehr als verzehnfacht. Für Zeitungen und TV-Sender haben Umfrageergebnisse einen hohen Nachrichtenwert. Und auch Politikerinnen äußern sich über die Ergebnisse. Sie zitieren Umfragen, wenn sie für sie günstig erscheinen. Sie verdammen Umfragen, wenn sie für sie ungünstig erscheinen. Gelegentlich fordern sie sogar, die Veröffentlichung von Umfrageergebnissen vor Wahlen zu verbieten. Neu ist dieser Unmut indes nicht: „Es kotzt mich an, ständig nur mit Umfragen zu hantieren“, verlor bereits 1994 Otto Graf Lambsdorff angesichts der FDP-Zahlen die Contenance.

Der Horse-Race-Effekt

Verbotsforderungen beruhen auf Vermutungen über die Wirkung von Umfragen. Dabei sind direkte Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung nicht nachgewiesen. Das Gleiche gilt für den Bandwagon– und den Underdog-Effekt. Laut Bandwagon-Effekt wollen Wähler auf der Siegerseite stehen und entscheiden sich daher für die in Umfragen führende Partei. Laut Underdog-Effekt schlagen sich Wählerinnen aus Mitleid auf die Seite der in Umfragen zurückliegenden Partei. Für beide Effekte gibt es in Deutschland keine belastbaren empirischen Belege.

Nachgewiesen ist hingegen, dass etwa drei Viertel der Bevölkerung die Berichterstattung über Umfrageergebnisse wahrnehmen. Besonders stark interessieren sich sogenannte „Campaign-Junkies“ für Umfragen. Sie nutzen auch andere Informationsquellen überdurchschnittlich oft. Sie sind politisch sehr interessiert und formal hochgebildet. Einige von ihnen ziehen Umfragen heran, um sich taktisch zu verhalten. So haben CDU-Anhänger bei den Bundestagswahlen 1983 und 1994 die FDP gewählt, um deren Einzug in den Bundestag und damit eine Fortsetzung der Koalition sicherzustellen. Dieses taktische Wählen rechtfertigt jedoch kein Veröffentlichungsverbot.

Nichtzählappell

Auch ist zu begrüßen, dass das ZDF vor einiger Zeit seine Selbstverpflichtung aufgegeben hat, in der letzten Woche vor der Wahl keine Umfrageergebnisse mehr zu veröffentlichen. Denn die Situation war kurios: Umfragen wurden auch in der letzten Woche durchgeführt. Journalistinnen und Politiker kannten die Ergebnisse. Nur dem Souverän, den Bürgern, wurden sie vorenthalten. Dabei sollten Bürgerinnen die Informationen zur Verfügung gestellt werden, die sie zu ihrer Wahlentscheidung heranziehen möchten.

Aber die Informationen sollten zutreffend und hochwertig sein. Statt einer Verbots- brauchen wir also eine Qualitätsdiskussion. Gefordert sind dabei zuallererst die Institute selbst. Um Fragen nach den aktuellen Wahrnehmungen und Ansichten der Wählerinnen und Wähler zu erhalten, blicken die Umfrageinstitute nicht in eine Glaskugel, obwohl Kritiker sie gelegentlich als „Datenhexer“ oder „moderne Orakel“ bezeichnen. Hinter den Analysen stehen vielmehr langjährige Erfahrung, wissenschaftliche Erkenntnisse und das Beherrschen des methodischen Handwerks. Das gilt zumindest für seriöse Institute wie die Forschungsgruppe Wahlen, Infratest dimap, das Institut für Demoskopie Allensbach oder forsa.

Politisch und psychologisch

Die Qualität steht und fällt unter anderem mit neutralen Frageformulierungen und einer guten Stichprobenziehung. Zweifel an der Güte kommen auf, wenn die Stichprobenbildung nicht klar ist. Zweifel kommen auch auf, wenn eine Stichprobe so verzerrt ist, dass sie sehr aufwändig durch Gewichte korrigiert werden muss. Das ist nicht trivial. Dominieren in einer Stichprobe beispielsweise Männer, muss man sich nicht wundern, wenn der Anteil der AfD-Wähler größer ausfällt als in Wirklichkeit. Das gilt erst recht bei Stichproben, die auf Selbstrekrutierung beruhen. So wird von AfD-Anhängern berichtet, die Gesinnungsgenossinnen dazu aufrufen, sich an Civey-Umfragen zu beteiligen. Der Berufsverband Deutscher Markt- und Sozialforscher e.V. 2020 hat im Hinblick auf das sogenannte Online-River-Sampling, wie es von Civey genutzt wird, festgestellt: „Die Befragten rekrutieren sich bei diesem Verfahren über spezielle Medienpartner und unterscheiden sich sowohl strukturell als auch politisch und psychologisch deutlich von der Gesamtbevölkerung. Diese systematischen Verzerrungen können durch eine wie auch immer geartete Gewichtung statistisch kaum ausgeglichen werden. Kritisch wird es durch eine behauptete Repräsentativität, die aber wissenschaftlich nicht haltbar ist.“

Zweifel kommen zudem auf, wenn die Werte eines Instituts sehr deutlich von den Werten anderer Institute abweichen – so wie dies bei Insa-Umfragen des Öfteren der Fall war. Das liefert der Bild-Zeitung zwar spektakuläre Schlagzeilen – etwa über ein Kopf-an-Kopf-Rennen von AfD und CDU vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Es bleibt aber oft unklar, wen Insa überhaupt befragt hat und mittels welcher Methoden genau dies erfolgt ist.

Wahlen nach Zahlen

Den besten Schutz vor minderer Qualität bieten Transparenz und Vielfalt. Aber auch die Verbände der Markt- und Meinungsforschungsinstitute sind dort gefordert. Denn Qualitätsverletzungen einzelner Institute bringen die gesamte Branche in Verruf.

Gefragt sind aber auch die Journalisten. Sie sollten mehr auf die Qualität der Umfragedaten achten und nicht jede Zahl unterschiedslos berichten – unabhängig davon, wie seriös das Umfrageinstitut ist. Auch sollten sie Umfrageergebnisse interpretieren. Nur Zahlen zu berichten, bringt wenig. Weniger Zahlenhype und mehr Qualität in der Berichterstattung sind ein Schlüssel, um künftig seltener Fehlschlüssen aufzusitzen. Dazu gehört auch, Umfrageergebnisse als das darzustellen was sie sind: Momentaufnahmen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

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