Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Es ist vielleicht nicht der bekannteste, aber doch einer der eindrücklichsten Romane von Philip Roth. Und es ist sein letzter: Nemesis aus dem Jahr 2010. Bucky Cantor, ein 23-jähriger Sportlehrer aus Newark, erlebt Mitte der 1940er-Jahre, wie eine Polio-Epidemie seine Heimatstadt erschüttert. Sie kriecht von den Armen- in die besseren Stadtviertel und rafft – neben vielen anderen – zwei seiner Schüler dahin. Schließlich ereilt die grausige Krankheit auch ihn selbst. Schlimmer noch: Womöglich schon infektiös, befördert der junge Lehrer die Viren unwissentlich in ein Feriencamp in den noch Polio-freien Pocono Mountains. Als die ersten Fälle dort auftauchen, ist er ganz sicher: Er hat die Seuche in eine heile Welt getragen.
Wer den Roman gelesen hat, weiß, dass Roth an nicht weniger als der religionskritischen Frage gelegen ist, warum Gott – so es ihn gibt – dieses Leid überhaupt zulassen kann. Doch soll dies hier weniger interessieren als die Versuchsanordnung, die der amerikanische Star-Autor dafür wählt. Polio ist Mitte der 1940er-Jahre noch nicht erforscht. Die Übertragungswege sind unklar, nur das Ergebnis der Seuche kennt bald jeder: schwere Lähmungserscheinungen, die bleibende Schäden bei jenen hinterlassen, die den viralen Befall überleben.
Wer sich mit Hilfe dieses Romans in die Zeit vor der Erfindung des erlösenden Impfstoffs hineinbegibt, kommt nicht umhin, den Fortschritt von heute zu schätzen. Zur Zeit des Bucky Cantor sollte es noch eine Dekade dauern, bis 1955 endlich ein Impfstoff gegen das weltweit wütende Virus entdeckt wurde. Die Sichtbarkeit der verheerenden lebenslangen Deformationen durch Kinderlähmung mag dazu geführt haben, dass die Debatte über die Sinnhaftigkeit der Impfung nicht allzu ideologisch geführt wurde. Es ging damals weniger um das „Ob“ oder „Ob nicht“ als vielmehr um Lebend- oder Totimpfstoffe.
Übertragen wir die Roth’sche Versuchsanordnung für einen kurzen Moment ins Heute: Das Coronavirus triebe sein Unwesen seit nunmehr fast zehn Jahren, ohne dass es gelungen wäre, einen Impfstoff zu entwickeln. Die Politiker weltweit wüssten keinen anderen Ausweg, als die Menschen in einer dauerhaften Lockdown-Anstrengung voneinander zu separieren. Natürlich würde das über so lange Zeit misslingen, Massenproteste und neuerliche Massenansteckungen hervorrufen mit immer neuen Mutationen. An den Klinikpforten herrschte ein brutales Auswahlverfahren. Die Statistikämter zählten ein Zigfaches der bisher weltweit 5,5 Millionen Toten und eine erschreckend hohe Zahl an Long-Covid-Patienten. Ohne Frage: Solche zehn Jahre würden die Gesellschaft radikal verändern, spalten, soziale Ungleichheit befördern, sicher über die Dauer auch Aufruhr und schwer gewalttätige Unruhen. Die Bilder einer solchen Versuchsanordnung – dystopisch.
Das Gedankenexperiment muss man nicht weiterführen. Denn es gibt ja die Impfung. Aber es könnte weiterhelfen, sich vorzustellen, was wäre, wenn es sie nicht gäbe – und das nicht nur den Impfgegnern, sondern auch den Politikern, die kommende Woche ihre erste Parlamentsdebatte über eine mögliche Impfpflicht führen.