„Darf“ eine Außenministerin so sprechen, wie es Annalena Baerbock tut? Aber ja doch. Das Befremden hat eher strukturelle Gründe. Allerdings sollte man die Wirkung der offenen Rede auch nicht überschätzen
„Darf“ eine Außenministerin so sprechen, wie es Annalena Baerbock tut? Aber ja doch. Das Befremden hat eher strukturelle Gründe. Allerdings sollte man die Wirkung der offenen Rede auch nicht überschätzen
Als die ersten Meldungen über Annalena Baerbocks Rede anlässlich ihrer Verleihung des Ordens wider den tierischen Ernst über die Nachrichtenticker gingen, musste man schmunzeln. Die Außenministerin löckte karnevalistisch wider den Stachel, also gegen das Kanzleramt. Sie wäre gern „als Leopard gekommen“, so Baerbock in Anspielung auf die lange Hängepartie in Sachen Panzerlieferungen westlicher Bauart an die Ukraine. „Aber dann hatte ich doch etwas Sorge, dass mir das Kanzleramt wochenlang keine Reisegenehmigung erteilt.“
Wer sich dann später die Fernsehaufzeichnung anschaute, sah eine wegen der Kriegszeiten absichtlich unverkleidete Baerbock, deren Rede im Narrenkäfig mit (für Karneval-Verhältnisse) gar nicht mal schlechten Witzen sich alles in allem als Rohrkrepierer erwies: Die Lacher fielen eher höflich aus, das Orchester blieb unsicher, wann denn zum Dreifach-Tusch anzusetzen sei. Eine geschliffene Rednerin, das wurde auch an diesem Abend deutlich, ist die Außenministerin nicht. Sie gab dies selbstironisch zu, als sie offenbarte, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hätten Wetten laufen, wie oft sie an diesem Abend „ebend“ (statt des Duden-konformen „eben“) sagen würde.
Sicher aber ist sie eine leidenschaftliche Rednerin. Sie packt diese Leidenschaft in eine Sprache, die oft die direkte Ansprache wählt, die „die Dinge beim Namen nennt“ und Mitgefühl demonstriert. Mit einem fünfmal wiederholten „45 Sekunden“ begann sie im Februar beispielsweise ihre Rede bei der außenpolitischen Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung. Diese Zeitspanne liegt zwischen dem Warnsignal und dem Einschlag russischer Bomben in der ukrainischen Metropole Charkiw. Russlands brutaler Angriffskrieg, „der für uns niemals zur Normalität werden darf“, war damit gleich in allen Köpfen. Bei der Verleihung des Aachener internationalen Karls-Preises an Maria Kolwsnikowa, Weronika Zepkalo und Swetlana Tichanoswkaja, die Anführerinnen der Proteste gegen die Wahlmanipulation in Belarus von 2020, sprach sie nicht von „belarussischen Sicherheitskräften“, sondern von „den Schergen des Lukaschenko-Regimes“.
Darf man so sprechen?
Schon im Bundestagswahlkampf 2021 fragte beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einer Glosse, ob es einer potenziellen Bundeskanzlerin gut anstünde, „Mist“ zu sagen, sich „tierisch zu ärgern“ und zu beteuern, etwas „nicht auf dem Schirm gehabt“ zu haben (im konkreten Fall das Angeben von Sondereinkünften). Seit Baerbock an der Spitze des Auswärtigen Amtes steht, erfüllt ihre Sprache nicht zuletzt viele deutsche Diplomaten alten Schlags mit, diplomatisch ausgedrückt, Skepsis. (Diplomatinnen gibt es in dieser Generation bis auf wenige herausragende Beispiele, allen voran Deutschlands brillante Botschafterin in Washington, Emily Haber, eher vereinzelt.)
„Darf“ eine deutsche Außenministerin so sprechen, wie Baerbock es tut? Ist Diplomatie nicht eine Sphäre mit sehr viel Grau und nur ganz wenig Schwarz und Weiß? Erfüllt es nicht einen Zweck, und sei es nur den, sich später erneut zusammensetzen zu können, dass man auf dem sogenannten diplomatischen Parkett von einem „offenen Meinungsaustausch“ spricht, wenn eine Zusammenkunft katastrophal verlaufen ist?
„Als jemand, der selbst acht Jahre lang Staatsminister im Auswärtigen Amt war: Mein Eindruck ist, dass es Konstellationen gibt, in denen die traditionelle diplomatische Sprache alleine nicht zum Ziel führt“, sagt Michael Roth (SPD), der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, der zuvor unter Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel und Heiko Maas für die Europapolitik zuständig war. „Das gilt nicht nur für unsere eigene Öffentlichkeit, sondern auch für autokratische Regime, die sich in den vergangenen Jahren einer immer aggressiveren Rhetorik bedient haben. Die Dinge deutlicher auszusprechen, trägt meiner Meinung nach dazu bei, dem etwas entgegenzusetzen. Und es sorgt auch dafür, dass Außenpolitik bei uns zu Hause besser verstanden wird.“
O Tempora, o mores!
Der Sprachforscher Albrecht Plewnia vom Leibniz-Institut für Deutsche Sprache warnt dagegen davor, die Wirkung zu überschätzen: „Sehr vereinfacht gesagt: Wer Frau Baerbock vorher schon gut fand, wird auch ihre Art und Weise, sich als Außenministerin zu äußern, positiv bewerten; Baerbock-Gegner lauern dagegen nur auf den nächsten Versprecher, um sich in ihrer ablehnenden Haltung bestätigt zu fühlen.“ Bei der Annahme, dass Baerbock mit ihrer Sprache stärker durchdringe, sei also Vorsicht angezeigt.
Dass gerade Ältere mit Baerbocks Ausdrucksweise fremdeln, hat aber auch strukturelle Gründe – laut Plewnia Teil eines bis in die Antike zurückzuverfolgenden Generationenkonflikts, bei dem die ältere Generation einen Sprach-, Bildungs- und Sittenverfall bei der jeweils jüngeren wahrnimmt. Auch habe sich das mediale Umfeld, in dem sich Politikerinnen und Politiker heute äußern, stark verändert: „Zum Beispiel werden auch Interviewfragen ‚lockerer‘ gestellt als früher.“ Wie Spitzenpolitikerinnen und -politiker aufträten, sei dabei oft nicht Ergebnis einer gezielten oder auch nur bewussten Inszenierung, so Plewnia, sondern eine oft über Jahre entwickelte Attitüde, entsprechend der Überzeugung: „So zu sprechen und aufzutreten, ist mir gemäß.“
Einer der häufigsten Vorwürfe gegenüber Baerbock, den sie auch in ihrer Karnevalsrede thematisierte, lautet, sie spreche „zu emotional“ – was SPD-Außenpolitiker Roth nicht teilt: „Vielleicht war das in den vergangenen Monaten sogar eine unserer empfindlichsten Schwachstellen, denn vor allem in der Ukraine wurde die deutsche Politik bisweilen als ziemlich kalt und empathielos wahrgenommen.“ Tatsächlich schließt Baerbock, die zuletzt beim Schmieden von Russland isolierenden Allianzen in aller Welt vor allem um „Vertrauen“ in Deutschland warb, mit ihrer Sprache eine wichtige Lücke. Während die Debatte um das Ausmaß deutscher Militärhilfe für die Ukraine und die Lieferung von Leopard-Panzern schon köchelte, sagte der estnische Außenminister Urmas Reinsalu im Herbst 2022 auf dem Berliner Forum Außenpolitik der Körber-Stiftung mit betonter Spitze in Richtung Kanzleramt: „Wir alle wissen, dass auf Annalena Baerbock Verlass ist.“
Michael Roth beschreibt es so: „Auch für die deutschen Außenpolitik gilt: In einem Chor gibt es verschiedene Stimmen und Temperamente, die ganz unterschiedlich intonieren. Das ist kein Problem, solange alle dasselbe Lied singen – und das ist bei der Bundesregierung der Fall.“ Um es mit Annalena Baerbock zu sagen: ebend.