Soziale Netzwerke müssen endlich in die Pflicht genommen werden
Soziale Netzwerke müssen endlich in die Pflicht genommen werden
Als Johannes Gutenberg Mitte des 15. Jahrhunderts den Druck mit beweglichen Lettern erfand, war das ein Segen für die Menschheit. Millionen von Menschen erhielten so in kurzer Zeit Zugang zu Bildung. Endlich konnte sich Wissen ausbreiten. Die Zensoren hatten es schwerer denn je zuvor in der Geschichte, Märchenerzähler auch.
Schon 50 Jahre nach Gutenbergs Erfindung waren Millionen von Büchern und anderen Druckerzeugnissen im Umlauf, eine für damalige Verhältnisse enorme Zahl. Das „finstere Mittelalter“ ging langsam, aber sicher seinem Ende entgegen.
Heute gibt es eine ähnlich revolutionäre Situation. Grund sind das Internet und vor allem die sogenannten sozialen Netzwerke. Facebook, YouTube, Twitter und Instagram haben das Alltagsverhalten von Menschen womöglich weit mehr verändert als jede andere Erfindung der vergangenen 100 Jahre. Sie haben auch die Politik und die Art und Weise, wie wir in demokratischen Gesellschaften Probleme miteinander verhandeln, stark verändert. Die USA und ihr „Twitterer-in-Chief“ sind da längst nicht das einzige Beispiel.
Die Vorteile der sozialen Medien liegen offen auf der Hand. Ihr ultimatives Heilsversprechen ist die Demokratisierung der öffentlichen Kommunikation: Ab sofort kann jeder mit jedem kommunizieren, auf Augenhöhe und ohne Kosten.
Von einem Segen für die Menschheit möchte ich dennoch nicht reden – zumindest nicht in der aktuellen Situation. Facebook, Twitter und Co. sind verantwortlich für den Ausstoß ungeahnter Mengen an Falschinformationen, an Hassbotschaften und sogar an direkten oder verklausulierten Aufrufen zur Gewalt. Diese Plattformen müssen das Eldorado eines jeden Rassisten und Antisemiten sein.
Wirre Gedanken, die früher mangels Massenverbreitung zumeist in den eigenen Wänden fehlgeleiteter Menschen blieben, werden nun in alle Welt hinausgeblasen. Mit weitreichenden Folgen: Nicht nur gute Menschen, auch Fanatiker und Terroristen vernetzen sich – lokal wie global. Sie erfahren Bestätigung von Gleichgesinnten, und selbst der größte Wirrkopf findet wahrscheinlich in den digitalen Echokammern jemanden, der ihm recht gibt und noch mehr anstachelt. Die Geschichte hat uns auch gezeigt: Es reichen wenige Hetzer aus, um zu übelsten Gewalttaten anzustiften.
Die besonders Leidtragenden dieser Hetze sind meist religiöse und ethnische Minderheiten, Geflüchtete oder Menschen, die anders aussehen oder denken als die Mehrheit. Aber auch Staat und Gesellschaft sind in Gefahr: Stetige Fake News in sozialen Medien können Populisten an die Macht spülen und unsere angegriffenen Demokratien gefährden, die infolge der Coronavirus-Pandemie von drohender Arbeitslosigkeit, Rezession und öffentlicher Unzufriedenheit erschüttert sind.
Vor zwei Wochen stellte Bundesinnenminister Seehofer die Polizeiliche Kriminalstatistik für Deutschland vor. Noch nie in den vergangenen 20 Jahren wurden so viele judenfeindliche Vorfälle erfasst wie 2019. Die meisten davon sind Hassverbrechen. Und wir müssen dabei feststellen, dass die hohen Fallzahlen des Antisemitismus, die wir heute in Europa und Nordamerika (wieder) haben, ursächlich mit dem Erfolg der sozialen Netzwerke zusammenhängen.
Es gibt wahrscheinlich heute nicht mehr antisemitisch eingestellte Menschen als vor 20 Jahren. Aber sie sind heute lauter, treten selbstbewusster auf, werden mehr gehört, sind besser vernetzt und: Sie sind gefährlicher. Die zahlreichen Anschläge auf Synagogen, Kirchen und Moscheen, die wir in den vergangenen Jahren weltweit beklagen mussten, kommen nicht von ungefähr.
Die schlimmste Waffe dabei ist der Hass, der sich wie ein Lauffeuer ausbreiten und der Einzelne dazu verleiten kann, ihre Gedanken von der virtuellen in die reale Welt zu überführen. In Pittsburgh, Christchurch, Halle – überall haben wir ähnliche Handlungsmuster erlebt – sie stehen in einem Zusammenhang mit den sozialen Medien.
Dennoch tut sich die Politik – die amerikanische ganz besonders, aber auch die europäische – schwer damit, klar rote Linien aufzuzeigen und notfalls regulierend einzugreifen.
Warum ist das so? Da ist zum einen die Tatsache, dass die Hater nur eine kleine Minderheit der Nutzer sozialer Netzwerke sind. Die übergroße Mehrheit verhält sich anständig, für die braucht es keine strikteren Regeln. Zum anderen sind wir uns als liberale westliche Gesellschaften immer noch nicht einig, wo die Grenzen zwischen Meinungsäußerung und Verleumdung liegen. Dass die Meinungsfreiheit dort ihre Schranken findet, wo die Grundrechte von Mitmenschen verletzt werden, sollte eigentlich jeder unterschreiben.
Ein Grundrecht auf Verbreitung von Falschinformation gibt es übrigens nicht. Gerade in Zeiten von Corona haben „Fake News“ indes wieder Hochkonjunktur. Absurde Falschinformationen, wie die Behauptung, dass der 89-jährige jüdische Mäzen und Shoah-Überlebende George Soros die jüngsten Proteste in den USA nach dem Tod von George Floyd angezettelt haben soll, fallen bei so manchem auf fruchtbaren Boden. Genauso wie Lügen, dass Israel absichtlich die Corona-Pandemie ausgelöst hat, um an einem Impfstoff Geld zu verdienen.
Dennoch weigern sich die Betreiber vieler soziale Netzwerke standhaft, „Fake News“ und Hassbotschaften zu löschen. Es verwundert wenig, warum das so ist: Nicht nur lässt sich damit gutes Geld verdienen; es kostet auch enorme Summen, die eigene Plattform auszumisten.
Deutschland hat vor drei Jahren mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz versucht, gegen den grassierenden Hass auf Facebook, YouTube und Twitter vorzugehen. Zuletzt hat sich die Bundesregierung bemüht, die Regeln gegen Hass im Netz zu verschärfen. Der Wille großer Teile der deutschen Politik, sich des Problems anzunehmen, ist lobenswert. Nun ist es Zeit für ein international koordiniertes Vorgehen.
Umso mehr schmerzt es zu sehen, wie wenig Facebook und sein Gründer und Chef Mark Zuckerberg aus den Skandalen der vergangenen Jahre und auch den vielen Hassverbrechen, die es zu beklagen galt, gelernt zu haben scheinen. Während Twitter jüngst immerhin eine Falschaussage des amerikanischen Präsidenten mit einer Klarstellung versah, hob Zuckerberg nur abwehrend seine Hände. Mit ihm werde so etwas nicht gelöscht, sagte er – auch zum Unmut vieler Facebook-Mitarbeiter.
Nun mögen einige Menschen bei Zuckerberg Prinzipientreue erkennen. Ich sehe dort dagegen einen eklatanten Mangel an Führungsstärke. Dass ausgerechnet ein jüdischer Unternehmer wie er nicht erkennen will oder kann, wohin ungebremster Hass und propagandistische Verleumdung von Gruppen führen können, ist traurig. Und es ist geschichtsblind.
Das liberale Argument, dass es nicht Aufgabe Privater sein kann, Inhalte zu zensieren, und nur staatliche Gerichte solch einschneidende Entscheidungen fällen dürfen, wirkt seltsam hohl. Es offenbart vielmehr, dass die allermeisten Strafverfolgungsbehörden der Welt – die Diktaturen mal ausgenommen – dem anschwellenden Hass in den sozialen Netzwerken hilf- und ressourcenlos gegenüberstehen.
Nein, auch Facebook, Twitter, Google und all die anderen haben eine Verpflichtung. Wenn sie bei uns und mit uns Geld verdienen wollen, kann man verlangen, dass sie Hass und Hetze einen Riegel vorschieben. Antisemitismus, Rassismus und Verleumdung sind eben keine Meinungen. Sie sind Vorstufen zu Verbrechen.
Antisemitische Hassbotschaften gehören gelöscht, und das nicht erst nach Tagen oder Wochen staatsanwaltlicher Ermittlungen, sondern mit sofortiger Entschlossenheit. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie, in der sich populistische Stimmungen schnell hochschaukeln. In einer Zeit, in der etwa Antisemiten, Rechtsextreme und Verschwörungstheoretiker eine gefährliche Melange bilden, müssen die Betreiber sozialer Netzwerke endlich dazu gezwungen werden, auch in ihrem Geschäftsbereich geltendes Recht anzuwenden.
Nicht, um Menschen zu gängeln oder zu zensieren, sondern um Verbrechen in der realen Welt zu verhindern.