Zum Tod von Fritz Pleitgen – ein Nachruf
Zum Tod von Fritz Pleitgen – ein Nachruf
Schon mit 14 Jahren hatte er zwei Leidenschaften – Fußball und Journalismus. Sie blieben es bis zu seinem Tod.
Rückblende in die Jugendjahre des Fritz Pleitgen. Der junge Mittelstürmer des SV Ennigloh 09, der auch als Verteidiger einsetzbar war, entwickelte nicht nur auf dem Spielfeld ungeahnte Fähigkeiten und Cleverness, er war gleichzeitig auch der einzige Sportreporter der Lokalausgabe Bünde der Freien Presse in Bielefeld und berichtete somit über alle Spiele des ostwestfälischen Provinzvereins aus der Nähe der Zigarrenstadt Bünde, also auch über die Leistungen eines Mittelstürmers oder Verteidigers der besonderen Art mit Namen Fritz Pleitgen.
Journalismus und Fußball ließen ihn nicht mehr los. Aus dem Volontär der Freien Presse Bielefeld wurde einer der bedeutendsten deutschen politischen Journalisten, ein großartiger, durchsetzungsstarker Intendant des Westdeutschen Rundfunks, ein medienpolitischer Visionär, ein Fan von Borussia Dortmund und vom FC Liverpool mit Jürgen Klopp.
Fritz Pleitgen begegnete ich zum ersten Mal 1981. Er war zu dieser Zeit ARD-Korrespondent in Ostberlin. Die oberen Etagen der ARD hatte er von einer Idee überzeugt, die typisch für diesen Journalisten bester öffentlich-rechtlicher Prägung war. Aus Anlass des zehnten Jahrestages der Unterzeichnung des Berliner Viermächte-Abkommens 1971 sollte am 2. September 1981 eine 75-minütige Livesendung zur besten Sendezeit um 20:15 Uhr mit den damaligen Unterzeichnern des Abkommens aus Berlin gesendet werden. Aus den Unterzeichnern waren inzwischen diplomatische Schwergewichte geworden – wie der US-Botschafter Kenneth Rush oder der legendäre sowjetische Botschafter Pjotr Andrejewitsch Abrassimow. Nicht wenige in der ARD bezweifelten, dass diese Sendung zustande kommen würde.
Doch da hatten sie nicht mit dem Willen und der Überzeugungskraft von Fritz Pleitgen gerechnet. Als junger Redakteur wurde ich ihm beiseitegestellt. Diese vier Wochen der Zusammenarbeit waren für mich als junger Redakteur prägend.
Fritz Pleitgen gab auch bei scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten nie auf. Das galt für sein ganzes Berufsleben und am Ende auch für seinen Kampf gegen den Bauchspeicheldrüsenkrebs. Er verlangte viel von seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Inhaltlich und zeitlich. Vor allen Dingen Loyalität und Ehrlichkeit. Wo etwas davon nicht vorhanden war – bekam man es zu spüren, und es konnte ungemütlich für die betreffende Person werden. Wenn er sich für etwas begeisterte, dann war er von einer beinahe gnadenlosen Hartnäckigkeit, um seine Vorstellungen durchzusetzen.
Widerspruch ließ er gelten, wenn man gute Gegenargumente vorbringen konnte. Fritz Pleitgen war immer offen und ehrlich zu seiner Umgebung. So hart er gegen sich selbst war, so verständnisvoll und besorgt war er um das Wohl und Wehe seiner Belegschaft.
Besonders geprägt hat ihn seine Korrespondentenzeit im Moskau und in der DDR. Die Liebe zu Russland blieb bis an sein Lebensende. Die Zeit in Moskau von 1970 bis 1977 während der Hochzeit des Kalten Krieges war für ihn eine der beruflich erfolgreichsten und menschlich schönsten Zeiten seines Berufslebens. Er verliebte sich gemeinsam mit seiner Frau Gerda in die russische Seele, in die russische Kultur, in die Menschen des riesigen Landes. Er unterstütze die Ostpolitik Willy Brandts. In Moskau hatte er Freundschaft mit Lew Kopelew geschlossen, der ihn mit all seiner politischen und künstlerischen Kraft begeisterte. Und so war es folgerichtig, dass er bis heute Ehrenvorsitzender des Lew Kopelew Forums in Köln war.
Als der ihn damalige WDR-Intendant Friedrich-Wilhelm Freiherr von Sell 1977 in das ARD-Studio Ostberlin versetzte, sah Fritz Pleitgen das erst als Abstieg in seiner Korrespondentenkarriere an, doch es wurde sein journalistischer Höhepunkt. Pleitgen bereiste die DDR, sprach mit den Menschen im Land, zeigte die Missstände, den Verfall des Systems in der Tagesschau im Westen und wurde im Osten ein Held. Wer am 9. November 1989 und danach an der Seite von Fritz Pleitgen in Dresden, Halle und Berlin sein konnte, wer ihn, mittlerweile WDR-Fernsehchefredakteur, an den Tagen des Mauerfalls zusammen mit Jürgen Engert bei der Berichterstattung begleitete, wer mit ihm zufällig bei der Stürmung der Stasi-Zentrale dabei war – der erlebte hautnah, welch wichtige journalistische Stimme Fritz Pleitgen für die DDR-Bevölkerung in seiner Korrespondentenzeit und darüber hinaus gewesen war.
Trotz aller Überwachung und Widerstände in Moskau und in Ostberlin, gelangen Fritz Pleitgen immer wieder journalistische Glanzlichter – Interviews mit Leonid Breschnew, Ronald Reagan, Erich Honecker oder ein letztes Gespräch – zusammen mit Friedrich Nowottny – mit Michail Gorbatschow, nur Stunden vor dessen Entmachtung 1991 durch Boris Jelzin.
Fritz Pleitgen war – wie wir alle – von der Wucht der Entwicklung zur Deutschen Einheit überrascht worden. Er begleitete sie mit nüchterner Sympathie, versehen mit kritischen Fragen zur Zukunft der neuen Bundesrepublik. Weil diese Art der Berichterstattung einigen konservativen ARD-Intendanten nicht gefiel, musste sich Pleitgen vor der Intendantenrunde rechtfertigen. Er tat das auf seine Art und Weise. Es folgte ein schon historisches Interview mit Altkanzler Willy Brandt und dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl, das die Intendantenkritik an seiner Berichterstattung noch erbärmlicher erscheinen ließ.
Vom Fernsehen wechselte Fritz Pleitgen 1994 für ein eher kurzes Gastspiel als Direktor zum WDR-Hörfunk, verabreichte dem Sender eine vollkommen neue Programmstruktur und schuf 1994 mit der neuen Jugendwelle 1Live ein Erfolgsprogramm – ein Visionär der Verjüngung des Programms.
Ein Visionär blieb er auch als WDR-Intendant von 1995 bis 2007. Information war für ihn das wichtigste Gut des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, und so war es nur folgerichtig, dass er einer der Gründungsväter des Senders Phoenix wurde. An dieser Neugründung hing sein Herz, er hatte den Aufbau des Informationskanals maßgeblich betrieben und war sehr stolz darauf. Die Idee hatte er aus den USA mitgebracht. Der Sender C-SPAN hatte ihn in seiner Washingtoner Zeit begeistert.
Der einstige Mittelstürmer des SV Ennigloh 09 holte als Intendant schließlich die Berichterstattung über die Fußballbundesliga wieder in die ARD-Sportschau zurück.
Fritz Pleitgen kämpfte für den unabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf allen Ebenen, national und international, er war ARD-Vorsitzender und gleichzeitig auch Präsident der Europäischen Rundfunkunion. Fritz Pleitgen war ein Intendant der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Er liebte es, durchs Haus zu gehen und den Redaktionen auch mal unangemeldet Besuche abzustatten. Er war aber auch ein ungemein fordernder Intendant mit journalistischem Gespür und großer Liebe zum früheren Reporterleben – und so war es keine Überraschung, dass er nebenbei noch erfolgreiche TV-Dokumentationen drehte. Als Fernsehdirektor erfuhr man von diesem Intendanten immer Unterstützung, auch wenn man mal einen Fehler gemacht hatte. Er war ein großartiger Mensch.
„Hier ist Pleitgen“ – oder: „Hier spricht Pleitgen“ – so eröffnete er seine Anrufe. Die kräftige Bariton-Stimme ließ auf neue Ideen und Programmanforderungen deuten. Freitagabends und am frühen Montagmorgen wurden es häufig aber auch Gespräche zwischen einem Anhänger von Borussia Dortmund und einem Fan des FC Schalke 04. Mit aller Kraft stemmte er sich zuletzt gegen den Bauchspeicheldrüsenkrebs. Er schrieb in dieser Zeit sogar noch sein letztes Buch – sein politisches Vermächtnis und die Bilanz eines Journalistenlebens: „Eine unmögliche Geschichte. Als Politik und Bürger Berge versetzten“ (Herder/Keyser Verlag). Journalist blieb er bis zum Schluss. In der vergangenen Nacht ist Fritz Pleitgen im Alter von 84 Jahren gestorben.
„Hier ist Pleitgen“ oder: „Hier spricht Pleitgen“, die Stimme bei den Anrufen wurde in den vergangenen Wochen leiser. Nun ist sie für immer verstummt. Sie wird verdammt fehlen.