Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Vor ziemlich genau sechs Jahren erschien der Roman Unterwerfung von Michel Houellebecq. Er hat seine Leserschaft polarisiert. Literatur sei nicht Realität, sagten seine Befürworter, sondern eine – in diesem Fall – dystopische Versuchsanordnung, in der Houellebecq aus der Sicht eines Intellektuellen die Abschaffung der Demokratie mit den Mitteln der Demokratie durch eine französische Muslimbruderschaft beschreibt. Vielen jedoch ging diese Versuchsanordnung zu weit, war zu radikal, zu provokativ, zu unrealistisch. Vielleicht auch zu bedrückend.
Beklemmend an jenem Buch ist sicher nicht allein die Vorstellung, irgendwann in einer islamischen Republik leben zu müssen. Beängstigend ist vielmehr, wie der Autor die Motivlage der geistig-kulturellen Elite in Szene setzt: zutiefst verführbar durch das Autoritäre, die Macht, um daraus Vorteile zu ziehen und demokratische Überzeugungen kurzerhand über Bord zu werfen.
Sechs Jahre später liefert nun die amerikanische Publizistin Anne Applebaum dazu eine höchst persönliche gesellschaftspolitische Analyse. Die Verlockung des Autoritären heißt ihr Buch auf Deutsch, das dem Aufschwung autoritärer Tendenzen in westlichen Demokratien nachspürt. Die Autorin zeigt dabei auf die wohl verletzlichste Stelle unserer Gesellschaften: die Anfälligkeit ausgerechnet der intellektuellen Eliten für das Autoritäre, die Houellebecq seinerzeit so trefflich beschrieb.
Es gab in den vergangenen Jahren viele Autoritarismus-Studien. Sie brachten hervor, was man so oder so kaum glauben mag, dass nämlich in jedem von uns der Hang zum Autoritären schlummert und dass er bei etwa einem Fünftel der Bevölkerung relativ leicht zu wecken ist. Die Debatte hat sich dabei weitgehend auf jene Teile der Bevölkerung konzentriert, für die das Autoritäre als Alternative zum Demokratischen vermeintlich attraktiv sein könnte: die Enttäuschten oder gar Abgehängten, die Verlierer der globalisierten Moderne.
Wenn Applebaums Beobachtungen stimmen, ist es viel schlechter um uns bestellt: Es sind die intellektuellen Eliten, die den allgemeinen Hang zum Autoritären für Demokratien so bedrohlich machen. Denn auch oder gerade in ihrer Schicht ist er tief verwurzelt. Autoritäre Bewegungen werden von oben, nicht von unten organisiert. Sich mit dem Autoritären zu arrangieren, wenn nicht sogar zu verbünden, es noch zu befördern, ist fatalerweise gerade für die Eliten von Vorteil. Denn es ermöglicht ihnen gesellschaftlichen Machtzuwachs.
Applebaums These zugespitzt: Ohne die intellektuellen Eliten ist der jüngste Aufstieg autoritärer Bewegungen nicht denkbar. Wieder einmal, denkt man sich da. Ein Blick in die Geschichte zeigt vielfältig, dass diese Erkenntnis nicht neu ist, aber leider immer noch wahr und so beängstigend logisch.